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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition)
Autoren: T.C. Boyle
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die Finsternis einer mondlosen Nacht mit aufziehendem Nebel konnte man nicht hinausgehen, das wusste sie doch besser als jeder andere: Das Gelände war zu unwegsam, die Klippen zu steil, die Einschnitte zu tief. Sie würden ihn nicht finden. Es war zu gefährlich. Es war besser zu warten. Besser? schrie sie. Und wenn er verletzt ist? Wenn er nur verletzt ist? Darauf wusste keiner eine Antwort. Aber Bob Brooks ließ sie nicht los. Er wiegte sie hin und her wie Herbie in jener Nacht in der Küche, doch diesmal war es kein Tanz, und irgendwann gaben ihre Beine nach.
    Dass die Mädchen es mit ansehen mussten – jedenfalls die ersten schrecklichen Augenblicke, als sie den Zettel in der Hand hielt und alles auf sie einstürzte, als Bob Brooks sie festhielt und aus ihrer Kehle Geräusche kamen, die wie das Röcheln eines verendenden Tiers klangen –, machte es nur noch schlimmer. Irgend jemand, eine der Gestalten mit den leeren Gesichtern und den großen, starrenden Augen, brachte sie hinaus und in ihr Zimmer. Reg, es war Reg, und Freddie folgte ihm. Die Navyjungs. Taten ihre Pflicht. Aufmerksam, nun doch aufmerksam. Ihre Beine trugen sie nicht mehr, sie musste sich in den Sessel setzen, in Herbies Sessel am Kamin, vor dem ersterbenden Feuer, aber sie musste sich zusammenreißen, sich um die Mädchen kümmern und Nachtwache halten bis zum Morgengrauen, bis sie nach Harris Point gehen konnten. Was würde sie dort finden? Was, wenn er nun vorbeigeschossen hatte? Wenn er es sich anders überlegt hatte? Wenn das Ganze nur eine Drohung war, ein Flehen um Mitgefühl, ein grausamer Scherz?
    Die Mädchen waren beide wach. Jimmie hatte sich vor ihrer Tür postiert, und drinnen saßen Reg und Freddie auf den Bettkanten und sprachen leise mit ihnen. Als sie eintrat, sprangen sie auf und gingen auf Zehenspitzen hinaus.
    Es gab keinen Aufschub. Marianne fragte leise und mit zitternder Stimme: »Was ist los? Reg und Freddie wollten es uns nicht sagen. Ist was mit Dad?«
    »Ja.« Der Raum war nur von einer Kerze beleuchtet, ihr gelbes Licht reckte sich zur Decke und fiel kraftlos zurück, immer wieder.
    Betsy jetzt, kaum hörbar: »Geht es ihm gut?«
    »Das hoffen wir.«
    »Warum ist er noch nicht zurück? Wo ist er?«
    »Er ist« – sie musste innehalten, um ihre Stimme zu beherrschen, denn Beherrschung war es, worauf es jetzt ankam, vor allem Beherrschung – »bei Harris Point.«
    »Bleibt er die ganze Nacht dort?«
    »Ja.«
    »Hat er das Zelt mitgenommen?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Hat er sich verirrt?«
    »Ja«, sagte sie, »er hat sich verirrt.«
    Seine Hand war bis zuletzt ruhig gewesen und umklammerte noch immer die blauschwarze Pistole. Er lag auf der Seite, und man hätte meinen können, er schliefe, aber schon aus zehn Metern Entfernung sah sie, dass es nicht so war. Niemand musste es ihr sagen. Sie brauchte keinen Arzt oder Leichenbeschauer oder Priester oder sonst jemanden.
    Sie saß auf Nellie, und neben ihr ritt Bob Brooks auf Hans. Der Nebel waberte im ersten Sonnenlicht, unter ihnen brüllte die Brandung, und die Robben brüllten zurück. Nebelfetzen schwebten durch die Luft, und es roch, als wäre ein Lagerfeuer gelöscht worden. Sie zügelte das Pferd, kniete neben ihm nieder und sah das blutverkrustete Loch in seiner Schläfe und die schwarzen Schmauchspuren. Es war so klein, dieses Loch, nicht größer als ihr Trauring. Seine Augen waren fest geschlossen, und sein Gesicht schien gefasst auf die Gewalt, die der nächste Augenblick bringen würde. Sie drehte ihn nicht herum, obwohl sie es gern getan hätte: Sie wollte ihn aufheben und in den Armen halten, ihn ein letztes Mal an sich drücken, aber er war nicht mehr da, er würde nie mehr dasein.
    Auf dem Schlitten brachten sie ihn nach Hause, und Jimmie stellte das Sofa auf den Hof und führte es wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zu. Als Deckel verwendete er ein Stück Sperrholz, das er in der Scheune gefunden hatte. Manny und Jesus gingen mit schmalen Lippen und zusammengekniffenen Augen zum Harris Point und hoben mit Spitzhacke und Schaufel hoch über dem Meer ein Grab aus, während Bob Brooks am Wohnzimmertisch saß und in der Familienbibel blätterte und Reg und Freddie das Feuer im Herd in Gang brachten und die Reste aufwärmten, damit alle etwas essen konnten. Ihr blieb es überlassen, den Leichnam herzurichten, und das tat sie, so gut sie konnte. Sie nahm sich zusammen – oder vielleicht war sie einfach nur stumpf und benommen – und wusch sein
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