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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition)
Autoren: T.C. Boyle
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nicht an der Front waren, wo täglich Männer ertranken oder von einem Hagel aus Bomben und Torpedos zerfetzt oder verbrannt wurden. Dafür konnte man schon ein bisschen Langeweile in Kauf nehmen.
    »Heute ist der große Tag, nicht?« sagte Freddie. Auch er nahm die Mütze ab und verharrte an der Tür, denn sie eilte zwischen Herd und Arbeitsfläche hin und her, und er wollte ihr nicht im Weg stehen.
    »Die Mädchen sind schon ganz aufgeregt«, sagte sie.
    »Gott, wie ich die Schule gehasst habe!« sagte Reg und verdrehte die Augen. »Ich konnte den letzten Schultag kaum erwarten. Und dann waren die Sommerferien in Null Komma nichts vorbei, und ich musste wieder in die Schule. Und die war wie ein Gefängnis.«
    »Ach, so schlimm ist es nicht, nicht für meine Mädchen.«
    Reg fand offenbar nichts dabei, sich ein wenig einzuschmeicheln, und machte ihr ein Kompliment: »Aber die haben ja auch eine ganz besondere Lehrerin. Wenn ich eine Lehrerin wie Sie gehabt hätte, anstatt diese Nonnen, denen es nur darum ging, möglichst fest mit dem Lineal zuzuschlagen, wäre ich heute wahrscheinlich Präsident von irgendeinem College.«
    »Ja, klar, Reg«, sagte Freddie, »du wärst bestimmt ein richtiger Gelehrter. Sollen wir uns selbst bedienen, Mrs. Lester, oder auf die Mädchen warten?«
    »Heute ist jeder auf sich selbst gestellt. Der Kaffee ist fertig. Nehmt euch Haferbrei und setzt euch damit ins Wohnzimmer. Herbie ist noch nicht auf, und ich habe hier jede Menge zu tun.«
    Der Morgen flog dahin. Marianne war im Schulhaus und schrieb ihre letzte Prüfungsarbeit, und so ging sie mit Betsy hinaus auf den Hof, um zu überprüfen, welche Fortschritte sie im Lesen gemacht hatte. Es war ein kühler, bedeckter Tag, ein typischer Junitag, aber der Pullover hielt sie warm, und nachts hatte es kaum abgekühlt, so dass sie den Ofen im Schulhaus nicht hatte anzünden müssen. Sie kniete im Garten und fasste die Blumenbeete mit Muscheln ein, die sie auf ihren Spaziergängen mit den Mädchen gesammelt hatte. Ab und zu sah sie zu Betsy, die vorlesend auf der Veranda saß, und korrigierte ihre Aussprache, oder sie spähte zur Bucht. Das Boot sollte zwar erst am Nachmittag kommen, aber man konnte nie wissen. Sie hatte es erlebt, dass es Stunden früher als erwartet in die Bucht eingefahren war. Betsy las flüssig und mit der richtigen Betonung, obwohl es ein schwieriger Text war: »›Die Steppdecke war ein Flickwerk unregelmäßiger kleiner Quadrate und Dreiecke in allen Farben, sein Arm über und über mit einem Muster tätowiert‹ – ist das richtig, ›tätowiert‹?«
    »Ja«, sagte sie, »›tätowiert‹. Lies weiter.«
    »›... tätowiert, das dem endlosen kretischen Labirinth‹ – «
    »›Labyrinth‹.«
    »›... Labyrinth glich: Keine zwei Teile waren gleich getönt, was vermutlich daran lag, dass –‹« Sie brach ab, und als Elise aufsah, stand Herbie auf der Veranda. Sie hatte ihn den ganzen Vormittag zwischen Schuppen, Schmiede und Hoftor hin und her laufen sehen und nicht weiter darauf geachtet – das Entscheidende war, dass er überhaupt etwas tat.
    »Elise – tut mir leid, dass ich unterbreche, und das war gut, Betsy, sehr gut –, aber ich suche den Notizblock. Hast du ihn irgendwo gesehen?«
    Sie sah ihn verwirrt an. Der Block musste auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer liegen, an dem er die Bücher führte und sie ihre Briefe schrieb, aber in seiner Stimme war etwas, was sie aufhorchen ließ. Er fragte sie aus einem bestimmten Grund, wollte sie auf etwas aufmerksam machen. Wollte er vielleicht unter vier Augen mit ihr sprechen? Sie stand auf, klopfte sich die Hände ab und sah zu Betsy, die, das Buch im Schoß, auf der Stuhlkante saß. »Na gut, Schätzchen«, sagte sie, »wir machen fünf Minuten Pause.«
    Herbie folgte ihr ins Haus und zum Schreibtisch. Dort war das Buch, in dem sie gestern abend gelesen hatte, außerdem das übliche Durcheinander aus unbeantworteten Briefen, Kuverts und Briefmarken, und unter dem großen braunen Umschlag mit den Prüfungsaufgaben der Schulbehörde und dem Tischkalender lag, nur teilweise verdeckt, der Notizblock. »Meinst du den hier?« fragte sie, drehte sich zu ihm um und hielt ihm den Block hin.
    »Ja«, murmelte er leise, »genau den.«
    »Brauchst du auch einen Umschlag?«
    »Ja.«
    Sie zog die rechte Schublade auf, nahm einen Umschlag von dem Stapel, der darin lag, und reichte ihn ihm. »Nur einen?«
    Er nickte.
    »Na gut – wenn du einen Brief schicken willst, leg
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