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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition)
Autoren: T.C. Boyle
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ihn irgendwohin, wo ich ihn sehen kann, sonst vergesse ich ihn in der ganzen Aufregung todsicher.«
    Es gab einen Augenblick, da standen sie einander gegenüber, Mann und Frau, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, und zwischen ihnen war etwas Unausgesprochenes, etwas, was sie nicht benennen konnte. Er sah ihr in die Augen und dann auf den Notizblock, und der Augenblick war vorüber.
    Zehn Minuten später war er wieder im Hof. Er hatte sich das weiße Hemd mit den Epauletten angezogen, das er nur zu besonderen Gelegenheiten trug, und sein Haar, das sich immer so ungebärdig aufstellte, mit Pomade gebändigt und glattgebürstet. Er wartete, bis Betsy ihn bemerkte und im Lesen innehielt. »Ich wollte nur sagen, dass ich jetzt Holz sammeln gehe, zu Fuß. Ich weiß noch nicht, wann ich wieder da bin.« Er fingerte an der Hemdtasche herum und wedelte dann mit der Hand vor dem Gesicht, als wollte er Mücken verscheuchen, nur dass da gar keine Mücken waren, jedenfalls sah Elise keine. »Vergiss nicht, die Jungs mit dem Schlitten hinunterzuschicken, wenn das Boot kommt.«
    »Ja«, antwortete sie, »ich sag’s ihnen.«
    Er beugte sich zu Betsy, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und gab dann auch Elise einen Kuss. »Darf ich Marianne kurz stören? Ich kann doch nicht Holz suchen gehen, ohne mich von ihr zu verabschieden, nicht?«
    Sie dachte nicht nach. Sie hörte nicht zu. »Natürlich«, sagte sie. »Aber nur ganz kurz. Und lenk sie nicht ab.«
    Er ging über den Hof. Sie sah, wie er die Tür öffnete, im Schulhaus verschwand, kurz darauf wieder herauskam und die Tür sorgfältig schloss. Auf dem Weg zum Tor sah er nicht zu ihr. Betsy war inzwischen bei der nächsten Passage: »›Aus tiefster Not rief ich zu Gott, / Und glaubte kaum, Er wär noch mein, / Er schenkte gnädig mir Sein Ohr – / Nicht länger schloss der Wal mich ein.‹« Die Angeln quietschten, als er das Tor öffnete, und dann ging er hinaus.
    Das Boot kam um kurz nach vier, und die Jungs waren mit dem Schlitten zur Stelle. Sie war zu beschäftigt, um selbst hinunterzugehen – immerhin musste sie den Tisch decken, die Lammkeulen begießen, die Muscheln panieren und sie in heißem Öl braten –, aber sie erlaubte den Mädchen, die beiden zu begleiten, und begnügte sich damit, sich die Begrüßung vorzustellen: Bob Brooks, der die Arme ausbreitete, die in prächtige Goldfolie verpackten Geschenke zum Schuljahrsende, Jimmie, der Kisten und Säcke schleppte wie ein halb so alter Mann, der bellende Hund und die rauschenden Wellen. Es war eine Szene, wie sie sie schon hundertmal erlebt hatte: Ihr Herz schlug dann schneller, und ihr Gesicht rötete sich vor Freude über die Gesellschaft, über die Abwechslung und die neuen Vorräte, über die Dinge, die jenseits des Meers hergestellt worden waren und sich vor dem Hintergrund der Dünen als eine immer schneller dahingaloppierende Phantasie von Überfluss und Luxus präsentierten. Die Kartons wurden an Land gebracht und auf den Schlitten geladen. Der Schlitten fuhr zum Haus. So war es immer gewesen, und so würde es immer sein. Es machte nichts, dass sie sich mit Zwiebeln behelfen musste, die schon durch und durch weich waren, oder dass sie für die Lammkeulen die letzten Knoblauchzehen verbraucht hatte und fast kein Mehl, kein Maismehl und keinen Zucker mehr hatte – das Boot war da!
    Als die Pferde in Sicht kamen – Jimmie führte sie am Halfter, und die Mädchen rannten voraus –, drangen Sonnenstrahlen durch die Wolken, spielten auf den Felsen und ließen das Buschwerk aufleuchten. Die Navyjungs, Bob Brooks und zwei andere stapften, gebeugt unter dem Gewicht vollgepackter Rucksäcke, hinter dem Schlitten einher, und sie musste an die Afrika-Expeditionen denken, von denen sie gelesen hatte, von Speke und Burton und den eingeborenen Trägern, die sich einen Weg durch ein unbekanntes Land bahnten. Sie sah sie durch das Küchenfenster und machte noch ein paar letzte Handgriffe, aber als die Männer über den Sattel kamen, zog sie die Schürze aus und ging zum Tor, um sie zu begrüßen. Sie musste die Augen beschirmen, die Hügel und Wiesen, die den ganzen Tag so stumpf graubraun gewesen waren, leuchteten plötzlich rötlich und golden, und das Buschwerk schimmerte in einem blassen, beinahe durchscheinenden Grün, während der Dunst über ihr sich auflöste und der Himmel tiefblau und wolkenlos erstrahlte. Der Tag war doch noch gut geworden, nein, mehr als gut: wunderschön. Einer jener Tage, die
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