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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Autoren: Matthias Politycki
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zahlreiche Ruinen, als ob dereinst hier ein belebter Pilgerpfad mit Läden und Teebuden gewesen. Ab und an hörte man eine kleine Steinlawine abgehen oder das Gelärm der Krähen in der Wand. Ein Adler segelte die Bergflanke herab und im Tiefflug knapp an Kaufner vorbei. Dann wieder nichts als der Wind, mitunter schlug er so kurz und hart auf den Berg, daß es wie das Knallen von Schüssen klang. Oder waren das die Jungs des Sultans, die sich, weiter oben, in irgendeiner Falte des Gebirgs, mit dem Schießen auf Murmeltiere in Stimmung brachten?
    Kaum war er eingenickt, schreckte er auch schon wieder hoch, ein kleiner Schrei aus nächster Nähe – hatte Odina zum Aufbruch gerufen? Hundert Prozent. Ein letzter Hain an strauchartigen Gewächsen, bald herrschten die Felsen unumschränkt. Der Weg führte beidseits der Bergrippe stets ein Stück in die jeweilige Rinne hinein, ehe er sich mit einer Spitzkehre zurückwandte. Viele der Stufen fehlten, die verbliebenen eine Abfolge wuchtiger Blöcke, kniehoch aneinandergefügt oder mit losen Felsbrocken und Steinen zu kleinen Halden zusammengerutscht. Noch ging es leidlich. Immer wenn Kaufner ins Resümieren geriet, ermahnte er sich: danach. Er wollte seine Sache zu Ende machen, ein Mann und ein Berg, nichts, was dazwischenkommen durfte.
    Am verdorrten Wunschbaum erkannte er den Weg, er war ihn schon einmal gegangen. Damals hatte er sich an dieser Stelle den Fuß vertreten, als sie den Esel aus dem Gestrüpp der Äste befreit hatten. Nun schwebte er wie im Traum über die Stufen. Fast enttäuschend, wie einfach man am Ende zum Ziel kam. Einige Serpentinen höher riß die Treppe plötzlich ab, und der Berg gab sich in all seiner Niedertracht zu erkennen. Vom Weg war erst zwanzig, dreißig Meter weiter oben wieder etwas zu erkennen. Dazwischen, in der Rinne, war fast die gesamte Serpentine von einer Mure weggerissen worden. Man sah die Spur, die sie auf ihrem Weg ins Tal genommen hatte, erkannte von oben die Zunge, in der sie, grau auf grau, auslief.
    Kaufner schleckte den Fels, kaute den Staub, erkannte den Pfad. Er war der erste nicht, der an diese Stelle gekommen, da und dort gab es Spuren seiner Vorgänger zu entdecken. Im Prinzip mußte man die fehlende Spitzkehre komplett als Kletterpfad bewältigen; auf einer der übriggebliebenen Stufen in der Kehre lagen kleine Steine aufeinander, ein untrügliches Zeichen. Als Kaufner in die Wand einstieg, hatte er bereits zwei Stunden am Berg in praller Mittagshitze hinter sich, er leckte sich das Salz von der Oberlippe.
    Kurz vor der Kehre, die Markierung heimtückisch nah vor Augen, ging es nicht weiter. Kaufner hatte sich an den abschüssigen Klippen sicheren Halt zu verschaffen gewußt, das schon. Aber vor ihm, die letzten Meter bis zu den stehengebliebenen Stufen in der Wand, war nichts mehr, woran er sich hätte festhalten können. Sondern ein schwarzer Fels, als schmaler Sims aus der Bergwand ragend. Um auf allen vieren hinüberzukriechen, hatte er sich viel zu sehr aufgeheizt. Man hätte natürlich einfach hinübergehen können. Wenn man es gekonnt hätte. Der Fels war an die vier Meter lang und nur zwei Handspannen breit. Wahrscheinlich würde er sofort ins Schwingen geraten, sobald man den Fuß darauf setzte.
    Es gelang Kaufner, sich halb vom Hang abzudrehen, so daß er sich hinter einer Felsnase leidlich bequem einklemmen konnte. Allerdings mußte er sich immer wieder kurz hochstemmen, weil selbst das graue Gestein so heiß war, daß man nicht dauerhaft darauf sitzen konnte. Unter ihm ein paar hundert Meter Luft. Felszacken mit und ohne Krähen. Spätestens aus dieser Perspektive war der
Leere Berg
, so harmlos er aus der Ferne heute früh erschienen, die Feindseligkeit der Welt schlechthin, als Natur getarnt.
    Kaufner beschimpfte sich. Früher warst du schwindelfrei, vollkommen schwindelfrei! Sonst hättest du den Einzelkämpferlehrgang ja niemals geschafft. Immerhin Zugspitze, das war damals auch nicht ohne. Und jetzt willst du versagen. Doch es half nichts. Er konnte ihn spüren, den Sog, der ihn nach unten zog. Immer mehr Krähen kamen krächzend herbeigesegelt, ließen sich in seiner Nähe ab. Sie waren hungrig und warteten darauf, daß er stürzte.
    Was anfangs noch als Pause gerechtfertigt werden durfte, um Luft zu holen und Mut zu schöpfen, wuchs sich aus und aus. Du wirst ein Wunder wirken und über diese Felsplatte gehen, als wär’s ein Bürgersteig. Sei ein Mann und bring es hinter dich. Aber Kaufner konnte
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