Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Autoren: Matthias Politycki
Vom Netzwerk:
Blutlache. Odina hatte gerufen. Doch die Marmorkugel, die Kaufner fest in der Rechten gehalten, war verschwunden, er mußte sie verloren haben. Auch in seiner Hosentasche zerknüllt nur ein halbes Taschentuch, mit Bären bestickt. Die meisten Wände der Schäferhütte, in der er genächtigt, waren eingefallen, kein Wunder, daß er so fror. Anscheinend war die Dorfgemeinschaft im Frühjahr nicht gekommen, um die Schäden des Winters zu beheben. Bald würde die Tochter des Schäfers ein Feuer im Ofen entfachen, Kaufner sehnte sich nach dem Geruch der Kuhfladen. Und nach Wasser, wie durstig er war! Am anderen Ende des Zielfernrohrs, wo die Felsenriffs zu grauen Ahnungen verschwammen, saß ein großer Rabe und merkte nicht, wie er ins Visier genommen wurde. Die Zeit war reif, den Himmel zusammenzufalten.
    Ein kurzes klares Rot am Horizont, gefolgt von einem schnell wechselnden Farbenspiel. Aber kein Stein klickerte talwärts, kein Vogel schrie, nichts wollte den Kirgisen ankündigen. Lang genug war er ein lebendiges Stück Fleisch mit zwei Augen gewesen. Zweieinhalb Jahre hatte Kaufner auf den Moment gewartet, da er sich rächen würde, nun konnte er auch noch liegenbleiben und ein paar Minuten dazugeben. Er würde nicht zu heftig atmen, damit der Lauf ruhig lag, würde nicht husten, nicht zögern. Würde Januzak mit einem einzigen Schuß erledigen wie ein Murmeltier.
    Ab und an wischte er sich mit dem halben Taschentuch die Stirn, dann ging es leichter. Sobald er das Tuch in die linke Handfläche legte, zitterte der Lauf nicht mehr. Sicher war ein Zauber hineingestickt. Sobald er zurück im
Atlas Guesthouse
wäre, würde er Shochi erzählen, wie das Tuch Wunder gewirkt und ihn am Ende zurück nach Hause geführt hatte. Aber der
Anfang
vom Ende, das war nun erst noch der Kirgise, und der ließ sich nicht blicken.
    Schon sah man über der Senke das Frühgewölk, zartgelb von unten bestrahlt, bergab fächelte die Morgenbrise. Der Tag der Abrechnung brach an. Ansonsten tat sich nichts. Mit einem Mal ein anschwellendes Summen, das sich zum kräftigen Brummen steigerte. Überm
Stinkenden See
jedoch keine Wolke zu sehen. Hingegen über Kaufners Versteck, mit Gedröhn hinterm Grat hervorkommend, Flugzeuge, immer mehr Flugzeuge, eine Staffel, ein Geschwader. Eine Angriffswelle nach der anderen. Richtig, es war Krieg. Auch wenn man beim besten Willen nicht sagen konnte, wer da flog und gegen wen, die Russen? Oder bereits die Chinesen? Wahrscheinlich war es egal. Während Kaufner überlegte, in welcher Richtung überhaupt Samarkand lag und der Westen, stieg die Phalanx überm Gegenhang steil auf und zerstob im Zenit wie eine Garbe Leuchtkugeln beim Feuerwerk.
    Aber nur, um sich sogleich zu einer neuen Formation zu finden. Zunächst ballten sich die schwarzen Punkte wieder zusammen, dann zogen sie sich zu einer Ellipse auseinander, die schräg über Nazardods Berg stand, um einen geheimen Mittelpunkt kreisend. So unwirklich perfekt aufeinander abgestimmt wie eine Computersimulation. Indem sich die Kurve weiter und weiter dehnte, zerfiel sie erneut, formte sich im nächsten Moment zum spitzen Winkel und … kam im Tiefflug pfeilschnell zurück über die Senke, in der Spitze schon fast wieder über der
Kirgisenkette
, beide Flügel immer weiter auffächernd. Indem es in rasender Fahrt über Kaufner dahinging, schien der Schwarm einen Sekundenbruchteil in all seiner elastischen Leere innezuhalten, um den Himmel mit seinem brausenden Tosen anzufüllen. Tausende, Abertausende an Vögeln. Hätte Kaufner einen Kreis um sich gezogen gehabt, wären sicher ein paar herabgefallen. Er mußte sich mit beiden Händen festhalten, um nicht vom Schwindel erfaßt zu werden und kopfüber hinaufzustürzen.
    Als der Schwarm wenige Augenblicke später vollständig hinterm Kamm verschwunden und nur die Stille des
Leeren Berges
zurückgelassen hatte, hörte man das Gelächter aus seinem Inneren, klar und hart. Kaufner schreckte hoch, blinzelte in den Tag. Das Tal sah genauso aus wie dasjenige, von dem er eben geträumt. Hatte er wirklich bis gerade eben geschlafen? War währenddessen etwa Januzak an ihm vorübergegangen? Kaufner sah auf die Uhr, es war schon viel später, als er geglaubt hatte. Du bist nicht mehr der Jüngste, die Zeit läuft dir davon. Im Himmel war kein einziger der indischen Stare mehr zu sehen, nicht mal eine Drohne. Oder träumte er
jetzt?
In jedem Fall hatte es keinen Sinn, länger zu warten. Du sollst dir keine unnötigen Fragen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher