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Salomes siebter Schleier (German Edition)

Salomes siebter Schleier (German Edition)

Titel: Salomes siebter Schleier (German Edition)
Autoren: Tom Robbins
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das wäre, als wollte man der Mona Lisa ein zweites Lächeln aufpinseln. Jetzt wäre sie zu dieser Art von Selbstbeherrschung nicht mehr fähig gewesen, selbst wenn sie gewollt hätte. Ihr Geist war ruhig, obwohl er vor Erregung schwirrte, und Salome schien sich mit schwitzenden kleinen Fingern daran festzuhalten, so wie an ihrem Tamburin.
    Als der siebte Schleier von Salomes Gesicht schwebte, war es, als hätte das Mädchen den Mund aufgemacht und einen vogelgroßen Schmetterling ausgerülpst. Ellens erster Gedanke war:
Wie schön sie ist!
, und der zweite:
Jeder muss es selbst rauskriegen.
    Ja, darum ging es. Der Staat würde sich nicht um einen kümmern, egal wie viel Sozialversicherung man bezahlt hatte oder wie viele Stimmen man mit seinem politischen Aktionskomitee kaufen konnte. Doch das lernte man nicht auf dem College, die meisten Colleges hatten sich entschieden, es zu ignorieren. Umgekehrt rissen sich die Kirchen ein Bein aus, um einem die Mühe zu ersparen, selbst zu denken – sie überreichten einem die Antworten fix und fertig und so klar wie das tägliche Horoskop in der Zeitung, und dummerweise auch genauso nutzlos, denn sie waren etwa genauso allgemein gehalten und ganz genauso spekulativ. Große Literatur, Malerei und Musik waren hilfreich, denn die konnten einen inspirieren, und die Natur noch mehr. Wertvolle Hinweise kamen immer wieder von Philosophen, spirituellen Meistern, Gurus, Schamanen, Zigeunermädchen im Zirkus und schwadronierenden Pennern auf der Straße. Aber das waren nur Hinweise. Kein selbsternannter Heiliger konnte für einen die Kastanien aus dem Feuer holen, und die echten Heiligen würden einem das auch sagen. Ebenso wenig konnte man das einem geschwätzigen, körperlosen Wesen überlassen, das aus dem Jenseits gesteuert wurde. (Die Toten lachen über uns, nicht vergessen!) Und natürlich lernte man es nicht am Rockzipfel seiner Mutter.
    Die Illusion des siebten Schleiers war die Illusion, dass ein anderer etwas für einen tun konnte. Zum Beispiel für einen denken. Für einen am Kreuz hängen. Der Priester, der Rabbi, der Imam, der Swami, der philosophische Schriftsteller – sie alle waren im besten Falle Verkehrspolizisten. Sie konnten einen über eine belebte Kreuzung dirigieren, aber sie würden nicht mit nach Hause kommen und einem den Wagen einparken.
    Gab es eine problematischere Lektion für ein menschliches Wesen, ein schwerer zu akzeptierendes Paradox? Zwar waren die hehren Gefühle, die hehren Wahrheiten universell, zwar war das Bewusstsein der Menschheit letztlich nur
ein
Bewusstsein, doch musste jedes einzelne Individuum auf der Welt seine oder ihre eigene besondere, einzigartige, unvergleichliche, direkte, persönliche und praktische Beziehung mit der Realität, mit dem Universum, mit dem Göttlichen aufbauen. Möglich, dass das kompliziert war, blöd und nervig, möglich sogar, dass es – und das vor allem – eine einsame Sache war, aber darum ging es.
    Es war für den Einzelnen so unterschiedlich wie für alle einerlei, und deshalb musste jeder sein Leben selbst in die Hand nehmen, seinen Tod selbst definieren und für seine Erlösung selbst sorgen. Und wenn man damit fertig war, würde man nicht den Messias anrufen. Er würde einen anrufen.
     
    Ähem, na gut, okay,
dachte Ellen Cherry.
Das hab ich so weit kapiert. Aber wart mal ’ne Sekunde. Ist das alles? Fehlt da nicht noch was? Da muss es doch noch was geben.
    Der Tanz ging zu Ende. Salome machte eine letzte beschwörende Pirouette, stampfte mit beiden Füßen laut auf den Boden und blieb dann taumelnd stehen. Sie stand dem Publikum zugewandt, doch ohne es anzusehen; die Augen niedergeschlagen, nach Luft ringend, die Atemwege krampften sich zusammen, und die Beine schwankten, als würden sie jeden Augenblick nachgeben. Merkwürdigerweise machte niemand, nicht einmal ihre Anstandsdame, Anstalten, sie zu stützen oder ihre Blöße zu bedecken. Der Raum war still, wie verzaubert.
    Ellen Cherry ging es nicht besser als der Tänzerin. Sie zitterte am ganzen Körper, war erhitzt, wie in Trance. Sie war im Raum und doch nicht im Raum. Ihr Geist wirbelte weiter über eine endlose Tanzfläche voller Gedanken. Instinktiv spürte sie, dass sie mit dem Fall des letzten Schleiers eine größere, umfassendere Wahrheit erwartet hatte: Sie hätte wenigstens die Umrisse des Mysteriums erkennen müssen. Also kniff sie die Augen zusammen und blinzelte, während die arme Salome dastand, zitternd, keuchend und
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