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Salomes siebter Schleier (German Edition)

Salomes siebter Schleier (German Edition)

Titel: Salomes siebter Schleier (German Edition)
Autoren: Tom Robbins
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geschmückt mit himmlischen Schweißperlenketten. Und Ellen Cherry dachte:
Na, komm schon. Wo ist die Pointe? Da fehlt doch noch was.
Bis plötzlich eine Stimme in ihrem Inneren sagte:
    «Wir erfinden sie.»
    Wer? Was?
    «Wir. Wir alle. Alles. Die Welt, das Universum, das Leben, die Realität. Besonders die Realität.»
    «Wir erfinden sie?»
    «Wir erfinden sie. Wir erfanden sie. Wir werden sie erfinden. Wir haben sie erfunden. Ich erfinde sie. Er sie es erfindet sie.»
    Okay, ich bin Künstlerin, das kann ich akzeptieren. Theoretisch. Aber wie wende ich es auf mein tägliches Leben an?
    «Das musst du schon selbst …»
    … rauskriegen, ja ich weiß. Aber warte noch. Bitte, geh nicht weg. Kannst du mir nicht wenigstens einen Rat geben?
    «Du willst noch mehr?» (Die Stimme klang ungläubig.)
    Ja. Bitte. Ein kleines bisschen. Einen windig kleinen Rat fürs praktische Leben.
    «Na schön. Der Trick ist: Behalt den Ball im Auge. Selbst wenn du ihn nicht sehen kannst.»
    Das soll wohl ein Witz sein
, dachte Ellen Cherry Charles.
     
    Ellen Cherry steuerte auf die Tür zu. Sie musste raus hier, und zwar schnell. Alles, was passiert war, erschien ihr vollkommen natürlich, so natürlich wie ein Tagtraum oder ein Brainstorming oder das Augenspiel; sicher, sie war überwältigt, aber weder erschrocken noch verwirrt, im Gegenteil, sie war in einem Zustand, der an Ekstase grenzte. Aber sie musste raus hier, sie brauchte frische Luft.
    Andere, alles in allem etwa zwanzig Leute, folgten ihr. Und als sie um die Ecke bog und die East Forty-ninth raufging, kamen sie hinterher. Es war nicht so, dass sie ein Auge auf sie geworfen hatten, eher so, dass sie an der Spitze einer Gruppe marschierte, die von ihrer eigenen verblüffenden Dynamik mitgerissen wurde.
    Die Gruppe war schon so weit weg, dass sie den Aufruhr im Isaac & Ishmael’s nicht mehr mitkriegte.
    Genau in dem Moment, als sie um die Ecke bogen, hatte sich Buddy Winkler ins Restaurant gedrängt. Als er Salome erblickte, die immer noch nackt vor dem Publikum stand (ihre Anstandsdame war gerade dabei, sie in einen Mantel zu hüllen), stürzte er zum Podium und wäre um ein Haar über Roland Abu Hadee gestolpert, der aus unerfindlichen Gründen auf allen vieren über den Boden kroch und die weggeworfenen Schleier aufsammelte. Einige Zeugen sagten später aus, Buddy Winkler habe «Bestie! Luder! Große Hure von Babylon!» geschrien. Andere behaupteten, er habe bloß gegrunzt und gestammelt in seiner Raserei. Auf alle Fälle packte er das Mädchen an der Kehle und drückte zu.
    Im gleichen Augenblick traf ihn Detective Shaftoes Kugel.
    Dann kamen die Wachmänner herein, wild um sich ballernd, wie sie es im Kino gesehen hatten. Salome erwischte es zufällig, Shaftoe mehr oder weniger absichtlich.
     
    Beide waren schwer verletzt, doch sie überlebten.
     
    Als Jackie Shaftoe wieder laufen konnte, schied er aus dem Polizeidienst aus und widmete sich – mit bescheidenem Erfolg – der Malerei. Sein größter Einfluss war, wie er immer wieder betonte, Ellen Cherry Charles. Er ging nie wieder zu einem Footballspiel und sah sich auch keins mehr im Fernsehen an.
    Sobald sie imstande war, ohne Sauerstoffgerät zu atmen, wurde das jüdische/arabische Mädchen, das sich «Salome» nannte, von ihren Hütern außer Landes geschafft, wahrscheinlich in den Libanon – einst auch Phönizien genannt, ein Anhängsel des Landes Kanaan.
    I & I

Einzelne briefmarkengroße Schneeflocken trieben in der Dämmerung, aber die Temperaturen waren eher mild, zum Glück für Ellen Cherry, die vergessen hatte, ihren Mantel überzustreifen. Trotzdem fröstelte sie leicht, als sie an Mel Davis’ Hundeboutique vorbeikam, wenn auch nicht wegen des Wetters.
Wenn wir alles erfinden
, fragte sie sich,
warum erfinden wir dann Hundeboutiquen
? Sushi-Bars, das konnte sie noch verstehen, und das war gut so, denn sie und die buntgemischte Schar von verrückten Schwärmern, die hinter ihr her marschierte, waren an mindestens einem Dutzend vorbeigekommen, sonntags geschlossen, der grüne Feuerschlund ihrer
wasabi
vor der Nacht verrammelt.
    Als die Gruppe sich der Lexington Avenue näherte, fiel ihr auf, dass viele Autofahrer hupten. Das war ungewöhnlich für einen Sonntagabend, und wären die «Pilger» nicht so weggetreten gewesen, hätten einige von ihnen es vielleicht persönlich genommen. Auf der Park Avenue, der friedlichen Park Avenue, nahm das Gehupe zu, und auf der Madison Avenue hingen Leute aus
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