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Salomes siebter Schleier (German Edition)

Salomes siebter Schleier (German Edition)

Titel: Salomes siebter Schleier (German Edition)
Autoren: Tom Robbins
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Hotelfenstern und Autos und schrien. Als sie sich der Fifth Avenue näherten, blieb Ellen Cherry stehen und lauschte. Die anderen blieben ebenfalls stehen. In der Ferne war ein schrecklicher Krach zu hören, ein singendes, johlendes, stampfendes Tohuwabohu, als würde auf einem Parkplatz mehrere Blocks weiter das Woodstock-Festival neu inszeniert. Endlich hatten die «Pilger» ein Ziel. Sie überquerten die Fifth, dann die Sixth Avenue und wandten sich schließlich nach Süden, wo der Lärm herkam, mit Ellen Cherry, ihrer Kellnerin, an der Spitze.
    Der Times Square war in Aufruhr. Tausende, wenn nicht Zehntausende hatten sich dort versammelt. Eine riesige, lärmende Menschenmenge verstopfte sämtliche Arterien wie belebtes Cholesterol und brachte den Verkehr mehrere Blocks weit in allen Richtungen zum Erliegen. Fahrer drückten minutenlang auf die Hupe, nicht aus Ärger oder Frustration, sondern aus Begeisterung. Die Massen, die zu Fuß gekommen waren, johlten und grölten wie mittelalterliche Kriegsleute, tanzten, sprangen von einem Fuß auf den anderen, schlugen sich gegenseitig immer wieder auf die Handfläche und hoben triumphierend den Daumen – ein Ritual. Grinsende Halbwüchsige aller Rassen tranken Bier aus Literflaschen, und berauschte Mädchen ließen ihre nackten Brüste wippen wie beim Mardi Gras in New Orleans. Das war es: Das Ganze hatte etwas vom Mardi Gras, bis auf die gelegentlich vorbeiwirbelnden Schneeflocken und die fehlenden Masken. Es war ein Fest, ein rauschendes, lärmendes Freudenfest – und die benommene Gruppe aus dem Isaac & Ishmael’s zog voreilig den Schluss, dass das, was hier gefeiert wurde, das Ende der Illusion war, die Enthüllung des Mysteriums, die Entstehung eines neuen, großartigen Zeitalters.
    Selbst Ellen Cherry glaubte einen Augenblick, die spontane Gefühlsaufwallung sei vom Tanz der sieben Schleier ausgelöst worden. Allmählich aber dämmerte ihr, dass das, was hier gefeiert wurde und die Bevölkerung in einen derartigen Taumel versetzte, New Yorks Sieg bei der Super Bowl war.
     
    Symbolisch gesehen schwamm Ellen Cherry vielleicht gegen den Strom, als sie versuchte, sich einen Weg vom Times Square fort zu bahnen, während Hunderte auf den Platz drängten. Einmal wurde sie von einem Schwarm Jugendlicher aus Jersey aufgehalten, an denen sie nicht vorbeikam, und nutzte die Pause, um die Schlagzeilen am Kiosk zu überfliegen. Einer der Leitartikel trug eine Jerusalemer Datumszeile. Er berichtete von einer Gruppe israelischer Soldaten, die mit Hilfe eines Bulldozers ein halbes Dutzend arabischer Jugendlicher aus der West Bank (einer davon erst elf Jahre alt) lebendig begraben hatten, weil sie sie in Verdacht hatten, ihre Militärfahrzeuge mit Steinen beworfen zu haben. Im zweiten Abschnitt beschrieb der Artikel, wie zwei Palästinenser vier unschuldige israelische Zivilisten und einen amerikanischen Touristen in einem Jerusalemer Straßencafé erstochen hatten. Während die Araber ihre langen Messer schwangen und Bäuche, Herzen und Lungen durchbohrten, hatten sie gerufen: «Gott ist groß! Gott ist groß!»
    Angewidert wandte sie sich ab, fand eine Lücke in der Menge und schlängelte sich hindurch. Sie schob und wurde geschoben, bis hin zur Fifth Avenue. Dort wandte sie sich nordwärts, und die Menge wurde mit jedem Schritt kleiner, der Lärm immer leiser. Als sie die St. Patrick’s Cathedral erreichte, war sie buchstäblich allein auf dem Bürgersteig, obgleich der Times Square hinter ihr dröhnte wie ein ferner Wasserfall von Papageien und Suppentöpfen und jeder zweite vorbeifahrende Autofahrer die Hand auf der Hupe hatte.
    Bei St. Patrick’s verlangsamte sie ihren Schritt. Im gleichen Moment sah sie in Wadenhöhe etwas Purpurrotes hinter einem Gitterfenster aufblitzen – oder glaubte es zu sehen. Es hatte solche Ähnlichkeit mit Salomes fallenden Schleiern, dass sie davon überzeugt war, an Halluzinationen zu leiden.
Wahrscheinlich sehe ich sie jetzt überall
, dachte sie.
Ich krieg schon Zustände.
    Ellen Cherry ging ein paar Meter weiter und blieb an der Stelle stehen, wo Turn Around Norman seine Vorstellung zu geben pflegte. Entschlossen setzte sie ihren Fuß so genau wie möglich an die Stelle, wo seine Füße immer gestanden hatten. Sie schloss die Augen und versuchte sogar, sich den Bruchteil eines Zentimeters nach links zu drehen, aber ihre Zeitlupe war viel zu schnell.
    «Turn Around Norman», sagte sie laut. «Wohin gehen Schönheit und Magie, wenn
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