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Salomes siebter Schleier (German Edition)

Salomes siebter Schleier (German Edition)

Titel: Salomes siebter Schleier (German Edition)
Autoren: Tom Robbins
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repressivsten Macht, die die Welt je gesehen hatte.
    Ja! Jetzt wird es mir klar
, dachte Ellen Cherry.
Der Religionsunterricht, dem ich als Kind ausgesetzt war, war eine Form von Kindesmisshandlung.
    Und sie meinte, jemanden neben sich sagen zu hören: «Ja! Stimmt! Endlich hab ich’s kapiert!»
    Eeena eeena eena eena
    Eh eh-eh wop wop haj
    Im Raum mit der Wolfsmuttertapete fliegt ein Specht zwischen den Querbalken hindurch und hinterlässt drei Fürze: einen auf einer heißen Kasserolle, einen in einer Flasche und einen zwischen den Saiten eines Spinetts. Zimmerservice.
    Die Gründung einer Religion ist eine verfeinerte Version von Aberglauben: Münzen in einen Brunnen werfen oder von einer Brücke spucken
, dachte Ellen Cherry.
Wahrscheinlich haben die Menschen einen angeborenen Trieb, jeden leeren Raum füllen zu wollen.
Während sie sich darüber noch den Kopf zerbrach, nestelte Salome an Schleier Nummer fünf. Er verhüllte ihre Knöchel, Waden, Knie und die Unterschenkel, jene Teile ihres Körpers, die Ellen Cherry verächtlich als zu dünn bezeichnet hatte. Mit diesem Schleier verschwanden auch die letzten Überreste jeglicher Illusionen, die man sich möglicherweise über Geld gemacht hatte.
    Immer wenn ein Staat oder ein Individuum «unzureichende Mittel» als Entschuldigung für die Vernachlässigung dieses oder jenes wichtigen Projekts anführte, veranschaulichte dies das Ausmaß, in dem die Realität von der abstrakten Brille des Reichtums verzerrt war. In Perioden sogenannter wirtschaftlicher Depression zum Beispiel litten Gesellschaften Mangel an allen möglichen lebensnotwendigen Gütern, doch stellte sich bei einer Überprüfung fast immer heraus, dass alle Waren da waren. Es gab alles: Kohle unter Tage, Getreide auf den Feldern, Wolle auf den Schafen. Was fehlte, war nicht das Material selbst, sondern eine abstrakte Maßeinheit namens «Geld». Das Ganze erinnerte an ein hungriges Schleckermäulchen, das jammerte, es könne keinen Kuchen backen, weil es keine Waage habe. Es hatte Butter, Mehl, Eier, Milch und Zucker – aber keinen Messbecher, keine Waage, kein Lot. Das verrückte Vermächtnis des Geldes war, dass die Arithmetik, mit deren Hilfe die Dinge gemessen wurden, wertvoller geworden war als die Dinge selbst.
    Dann folgten ein paar Brocken Standardwissen: Eher gehe ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein reicher Mann ins Königreich des Himmels gelange (wenn man überlegte, wie oft dieser Gemeinplatz auf dem Papier als Rechtfertigung für ein großes, rigides Ego diente, während andererseits dieses Königreich des Himmels der offene Zustand der Egolosigkeit war, wurde einem klar, worauf Jesus abzielte), und Ellen Cherry war sich sicher, Spike Cohen in diesem Augenblick rufen zu hören: «Ojojoj! Wie wahr!» Dann dröhnte das Tamburin wie eine Faust, die auf eine Schatztruhe fällt, und Salome begann eine Reihe von auserlesenen Pirouetten, die darin gipfelten, dass sich der Schleier vor ihren Brüsten löste und zu Boden flatterte.
     
    «Hmmm. Süße Titten», bemerkte der Barmann, ein Eindruck, der im ganzen Raum geteilt wurde. Es waren die Titten eines jungen Mädchens, nur wenig größer als Ellen Cherrys, aber so perfekt gerundet wie Fahrradreifen, und sie schienen keinem Gesetz der Schwerkraft zu gehorchen. Schweißglänzend, wie sie waren, glichen sie überdimensionalen Tulpenblüten, die in einem feinen Frühlingsregen gebadet hatten. Sie wogten vor Anstrengung wie Quallen in einem unruhigen Meer, was manche geil, andere widerwärtig fanden. Auf alle Fälle wandte niemand den Blick von ihr, obgleich im selben Augenblick einer mit unangenehm lauter Stimme durch die Hoftür brüllte: «Hey! New York hat grad ’n
field goal
geschossen und liegt in Führung!»
    Eeena eeena eena-eena haj
    Unter den Holzdielen dieses Raums beuten Schulmädchen eine Diamantmine aus. Jede Karte auf dem Tisch ist eine Karo-Dame. Und die Tapete heult den Mond an.
    Die Offenbarungen fingen an, sich zu überlappen. Ellen Cherry dachte gerade darüber nach, dass man nicht für alles Geld der Welt Sicherheit kaufen konnte, und wenn man es konnte, war es ein schlechter Handel, ganz gleich, zu welchem Preis, denn Sicherheit stellte eine Form von Paralyse dar, so wie Befriedigung eine Form von Tod. Irgendwas in dieser Richtung schoss ihr durch den Kopf, als der sechste Schleier von Salomes liebenswerten, kosenswerten Brüsten flog, und von einer Sekunde auf die andere befasste sich ihr Bewusstsein mit den
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