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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums
Autoren: Michael Köhlmeier
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des Stiers steigen, aber das ließ der Stier nicht zu. Er drehte sich um und rannte weg und sprang ins Wasser und schwamm davon.
    Europa, in der einen Hand hielt sie ihr Blumenkörbchen, mit der anderen Hand klammerte sie sich an einem Horn des Stiers fest, und so schwamm sie auf Zeus’ Rücken hinaus und wurde von ihren Gespielinnen nie wieder gesehen.
     
    Wir wissen, der Stier schwamm mit Europa auf seinem Rücken durch das Mittelmeer, und erst in Kreta stieg er an Land. Und wir wissen auch: Europa kehrte nie mehr zu ihrem Vater und zu ihren Brüdern zurück. Agenor, ihr Vater, der seine Tochter über alles liebte, schickte seine Söhne aus, um sie auf der ganzen Welt zu suchen. Vorübergehend verlassen wir nun das hübsche Mädchen Europa. Wir können ahnen, was Zeus mit ihr anstellte, aber wir schieben die Erzählung noch ein wenig hinaus.
    Agenor schickte seine Söhne in die Welt, um seine Tochter Europa zu suchen. Es ist dies ein typischer Fall von Vergeblichkeit, solche Geschichten kann man in allen Märchen finden, daß Söhne ausgeschickt werden, um ihre Schwester zu suchen – oder umgekehrt. Zum Beispiel bei den Brüdern Grimm kann man das Märchen von den sieben Raben nachlesen. Dort sendet der Vater die Tochter aus, um die sieben in Raben verwandelten Söhne zu suchen … Und hier also auch.
    Es ist für uns gar nicht so wichtig, welche Söhne das waren. Da gibt es den Phönix – er hat Phönizien gegründet – oder Kilix und Thasos und Phineus, und wie sie alle geheißen haben. – Nur einer ist wirklich von Bedeutung und von ihm soll erzählt werden, nämlich von Europas Bruder Kadmos.
    Auch Kadmos machte sich auf den Weg, und er landete in Griechenland. Er war schlauer als die anderen Brüder Europas. Er dachte sich, ich werde nach Delphi gehen und mir dort von dem Orakel sagen lassen, wo meine Schwester ist.
    Delphi spielt in der gesamten griechischen Mythologie eine ganz zentrale Rolle, und niemand bis heute weiß ganz genau, was dort eigentlich geschah. Man weiß nur, das Orakel, von Apoll selbst eingerichtet, gab nie oder nur in den seltensten Fällen klare Auskünfte, immer waren die Antworten verrätselt, oft in ironischer Form, und mit diesen Rätseln mußte man umgehen, diesen Rätseln mußte man sich stellen. Man kann auch sagen, das war ein Trick. Wenn die Weissagung nicht eingetreten ist, dann konnte das delphische Orakel immer noch behaupten, gut, du hast mein Rätsel eben nicht verstanden.
    Kadmos, der Bruder der Europa, ging also nach Delphi, und die Pythia, die Priesterin, sagte zu ihm: »Hör auf, deine Schwester zu suchen, das hat überhaupt keinen Sinn, du wirst sie nicht finden, und wenn, dann bedeutet es für dich nur Unglück.« – Ist ja klar, Apoll wußte, wer Europa entführt hatte. »Nein«, sagte die Priesterin, »such du Europa nicht! Geh, wohin dich deine Füße tragen, und wenn du auf eine Kuhherde triffst, und in dieser Kuhherde befindet sich eine Kuh, die an ihrer Seite so ein mondförmiges Mal, so einen krummen Fleck hat, dann nimm diese Kuh, gib ihr einen Tritt und folge ihr nach, bis sie vor Erschöpfung zusammenbricht.«
    Kadmos tat genau, wie ihm geheißen. Er streifte umher, ging einfach seinen Füßen nach und traf tatsächlich auf eine Kuhherde. Gleich sah er in der Herde ein Tier mit diesem mondförmigen Fleck an der Seite, und er gab dem Tier einen Tritt und folgte ihm nach. Er hetzte es vor sich her, bis es schließlich irgendwo niederbrach. Das Orakel hatte noch gesagt, an der Stelle, wo die Kuh umfällt, dort sollst du, Kadmos, eine Stadt gründen. Und Kadmos gründete an dieser Stelle die Stadt Theben. Und damit eröffnet sich ein ganzer ungeheurer Sagenkreis für uns, nämlich der thebanische Sagenkreis, der unüberschaubar ist, deshalb tun wir schon gar nicht so, als ob wir ihn überschauen könnten, und bleiben vorerst ganz nah bei Kadmos.
    Kadmos schlachtete die erschöpfte Kuh und wollte sie den Göttern als Opfer darbringen. Dazu war Wasser nötig. Er ging zur nächsten Quelle, um Wasser zu schöpfen. Aber dort war ein Drache – oder eine Schlange, wie es in einer weniger aufgeregten Version heißt. Und diese Schlange mußte die Quelle bewachen. Kadmos machte kurzen Prozeß: Er erschlug die Schlange, schöpfte Wasser und brachte den Göttern sein Opfer dar.
    Aber diese Schlange war eine besondere Schlange. Es war nämlich eine Schlange des Kriegsgottes Ares. Und von diesem Kriegsgott ist für die Menschen niemals aber auch nur irgend etwas Gutes
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