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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums
Autoren: Michael Köhlmeier
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möglichen Feind von vornherein die Lust zur Eroberung zu vermiesen. Vor diesen drei Geschenken des Zeus fürchtete sich Minos, und deshalb hütete er sich davor, Europa, seine Mutter, allzusehr zu reizen.
    Minos wurde König von Kreta, nachdem er seinen Bruder Rhadamanthys von der Insel verjagt hatte. Als Rhadamanthys bald darauf starb und in den Hades einging, machte ihn Zeus zum Richter über die Schatten. Dem Minos schenkte der oberste Gott die Gesetze, mit Hilfe derer er sein Reich regieren sollte. Minos war niemand anderem verantwortlich als Zeus, seinem Vater. Und die Kreter zweifelten nicht an diesen Gesetzen, denn ihnen war klar, ihr König ist der Sohn des höchsten Gottes, und darauf waren sie stolz.
    Kreta ist umspült vom Meer. Der Gott des Meeres aber war Poseidon. Und Poseidon sah es auf die Dauer wohl nicht gerne, daß dieser Minos nur seinem höheren Bruder Zeus diente. Immerhin, sagte sich Poseidon, immerhin lebt er ja auf einer Insel, und Inseln gehören zu meinem Einflußbereich. Und er war eifersüchtig. Poseidon war eifersüchtig, und Zeus, der die Launen seines Bruders kannte, riet Minos, doch auch ab und zu zum Gott des Meeres zu beten, und Minos tat das. Er tat das ungern. Aber er tat es. Außerdem kostet Beten nichts.
    Da war aber auch noch der Sonnengott Helios, der mit seinen Strahlen die Insel wärmte und die Frucht gedeihen ließ. Helios wünschte sich ebenfalls die Aufmerksamkeit des Minos. Gut, Minos betete auch zu ihm, und weil Helios darüber so gerührt war – der Sonnenkult war nicht sehr verbreitet in dieser Gegend –, schenkte ihm Helios seine Tochter Pasiphaë zur Frau. Minos nahm das Geschenk an, er wollte es eben allen recht machen.
    Um Pasiphaë wehte von Anfang an ein tragisches Geschick. Sie gebar dem Minos etliche Kinder, darunter Phaedra und Ariadne. Oft ist es so, daß die grausamsten Schläge des Schicksals nicht die erste Generation treffen, sondern die Kinder, die an der Schuld ihrer Eltern gar nicht teilgehabt haben. Sie bekommen dann die volle Wucht der Rache der Götter ab. Phaedra und Ariadne wurden nicht glücklich. Phaedra wurde die Frau des Athenerkönigs Theseus, aber sie verliebte sich in einen seiner Söhne, aus erster Ehe, einen vierzehnjährigen Knaben. Und der war entsetzt darüber, daß ihn seine Stiefmutter begehrte, und er meldete es seinem Vater. Er verspottete seine Stiefmutter, die ihm wohl zu alt und auch zu häßlich war. Phaedra war gedemütigt und entsetzt, und sie stritt alles ab. Sie behauptete vor ihrem Mann, der Knabe habe sie verführen wollen, und als Theseus ihr nicht glaubte, nahm sie sich das Leben. – Die andere Tochter der Pasiphaë und des Minos, Ariadne, wurde ebenfalls die Frau des Theseus.
    Minos, sagten wir, sah sich gezwungen, auch dem Gott des Meeres, dem Gott der Gewässer, Poseidon, seinen Respekt zu erweisen und zu ihm zu beten. Das aber war Poseidon bald zuwenig. Er sah ja, daß seinem Bruder Zeus geopfert wurde. Also forderte er ebenfalls ein Opfer. Er forderte von Minos einen Stier. Der Stier ist das Wappenzeichen der Kreter. Zeus war in einen weißen Stier verwandelt, als er mit Europa auf dem Rücken auf der Insel landete.
    »Genau so einen Stier will ich geopfert bekommen«, ließ Poseidon verlauten. Der Meergott war immer eifersüchtig gewesen auf seinen viel größeren, viel mächtigeren Bruder.
    »Woher soll ich so einen weißen Stier nehmen«, fragte Minos.
    Gut, da hat Poseidon eben ein bißchen nachgeholfen. Er formte aus dem weißen Gischt der Wellen einen Stier nach Maß und ließ ihn aus dem Wasser steigen. Aber Minos, der sich nur vor seinem Vater Zeus fürchtete und sonst vor niemandem, dem gefiel dieser Stier selber so gut, und er dachte sich: »Ach was, der dumme Gott Poseidon wird’s nicht merken, ich führe dieses herrliche Tier in meine Stallungen und opfere irgendeinen anderen Stier, einen alten, kranken, ausgedörrten.« – Und so tat er es auch und forderte damit das Schicksal heraus.
    Poseidon durchschaute die List und bestrafte den Minos. Aber er strafte ihn nicht direkt. Ich meine, er hätte ihn ja mit seinem Dreizack erschlagen können, er hätte ihn mit einer Flutwelle vom Strand wegspülen können, wenn Minos dort spazierenging. Nein, er rächte sich auf viel raffiniertere Art und Weise – auf sehr teuflische Art und Weise, würde man gern sagen, wenn man nicht wüßte, daß die Griechen die Figur des Teufels nicht kannten. Poseidon machte, daß Pasiphaë, die Frau des Minos, die Tochter
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