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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums
Autoren: Michael Köhlmeier
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von Kadmos und Harmonia. Und ich muß gleich sagen, diese Ehe war glücklich, sie war gesegnet mit Kindern, und Harmonia und Kadmos wurden am Ende in das Elysium geführt. – Das Elysium liegt außerhalb des Hades, dorthin werden die Seligen verfrachtet, denen man einerseits den Hades nicht zumuten möchte, die man andererseits aber auch nicht im Olymp haben will.
    Aber über allen Geschenken der Götter lauert auch ein Fluch. Das kann man sich als Richtschnur für die ganze Mythologie nehmen: Wenn dir die Götter etwas Gutes tun, dann paß auf, paß auf, es ist ein Haken dabei. Am besten ist, die Götter ignorieren dich. – Nun, Harmonia und Kadmos wurden nicht von den Göttern ignoriert, sie wurden reich mit einem erfüllten Leben beschenkt; aber all ihre Kinder waren zutiefst unglücklich, sie nahmen sich das Leben oder verfielen dem Wahnsinn, wie Semele, die unbedingt das Angesicht ihres Liebhabers Zeus sehen wollte.
    Das war die Geschichte von Kadmos, der ja eigentlich seinen Weg angetreten hatte, um seine Schwester Europa zu suchen, die an jenem verhängnisvollen Tag mit dem weißen Stier ins Wasser gestiegen war.

Kreta
    Von Minos und seinem Bruder – Von Pasiphaë und
einem anderen weißen Stier – Von Minotauros – Von
Theseus und Ariadne – Von Daidalos und Ikaros
     
     
    Kehren wir zu Europa zurück.
    Das naive, hübsche Mädchen Europa wurde von Zeus, dem weißen Stier, durch das Meer nach Kreta getragen. Und dort am Strand verwandelte sich Zeus abermals, diesmal in einen Adler, er legte seine dunklen Schwingen über die kleine Europa und – und hier gehen die Meinungen auseinander: vergewaltigte sie, sagen die einen, liebte sie, sagen die anderen. Normalerweise spielt es keine so große Rolle, für welche Interpretation man sich entscheidet; in diesem Fall lege ich Wert darauf. Die anderen sagen: Nein, er vergewaltigte sie nicht, es war eine Liebesbeziehung, Europa verliebte sich ihrerseits ebenfalls in ihren Entführer. Ich bin der Meinung, es ist schon entscheidend, ob unser Kontinent als Folge einer Vergewaltigung entstanden ist oder aus Liebe. Die Zyniker werden sagen: Schau dir doch die Geschichte Europas in den letzten paar tausend Jahren an, was soll das andres gewesen sei als eine Vergewaltigung. Europa ist vergewaltigt worden, und Europa hat dann im Laufe seiner Geschichte die ganze Welt vergewaltigt. Das sagen die Zyniker. Ich bin kein Zyniker, und deshalb neige ich mehr zu der Liebesgeschichte. Immerhin hat Europa ihrem göttlichen Liebhaber drei Söhne geschenkt, und ich kann nicht glauben, daß drei Söhne nur aus Vergewaltigungen entstanden sind.
    Der dritte Sohn wurde von der Mythologie vernachlässigt. Die ersten beiden Söhne sind wichtig: Minos und Rhadamanthys. Minos steht für den Beginn eines neuen Sagenkreises. Wir haben auf der einen Seite den thebanischen Sagenkreis, und hier haben wir den minoischen, den kretischen Sagenkreis.
    Diese beiden Söhne der Europa, Minos und Rhadamanthys, hatten von Kindesbeinen an miteinander Streit. Sie waren sich nie einig. Wenn der eine etwas tat, hielt der andere Gericht über ihn und verurteilte ihn, und umgekehrt. Und einmal gab es einen offenen Konflikt, da waren sie schon halbwüchsig, sie verliebten sich beide in denselben Knaben. Minos war der Stärkere, er vertrieb Rhadamanthys von Kreta, er solle sich nie wieder auf der Insel blicken lassen. Rhadamanthys floh nach Griechenland, und als er starb, wurde er in der Unterwelt als Richter über die grauen Seelen eingesetzt.
     
    Minos herrschte von nun an über Kreta. Seine Mutter Europa blieb bei ihm, er hielt sie gezwungenermaßen in Ehren. Er hätte sie gerne losgehabt, sie ließ sich nicht von ihm beherrschen, folgte ihm nicht, mischte sich in seine Macht ein und kritisierte bei jeder Gelegenheit seine Führung des Landes. Minos war in Wahrheit voller Haß gegen seine Mutter. Aber er hielt sich von ihr fern, mied offenen Streit, denn Europa hatte von ihrem Geliebten, von Zeus, drei Geschenke bekommen: Das erste war ein Speer, der immer traf, ganz egal, wie ungeschickt der Werfer war, und ich nehme an, daß Europa, die so gern Blumen pflückte, sehr ungeschickt im Werfen von Speeren war. Als zweites Geschenk hatte sie einen äußerst bösartigen bissigen Hund von Zeus bekommen, den schnellsten Hund, den es auf der ganzen Welt gab. Die dritte Liebesgabe war ein Bronzemann, der nichts anderes tat, als täglich drei- bis sechsmal im Laufschritt um die Stadtmauern zu dampfen, um jedem
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