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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums
Autoren: Michael Köhlmeier
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göttliche Klänge. Marsyas dachte nicht daran, dahinter einen Spuk zu vermuten, er schrieb die wunderbare Musik ganz seinem Genie zu, von dem er, wie er sich sagte, bisher nur nichts gewußt hatte.
    So zog er vor die Bauern der Umgebung und spielte ihnen auf. Und die sagten: »Also, wir können dir nur gratulieren, Satyr Marsyas!« – Sie bewunderten ihn mit offenen Mündern. Hingerissen waren sie, und einer der Bauern sprach es aus: »So schön wie du spielt nur noch Apoll, der Gott der Musik!«
    Und da hätte der unglückselige, närrische Marsyas widersprechen sollen. Unbedingt! Spätestens nach diesem Wort hätte er die Flöte weit von sich werfen sollen. Aber er hat es nicht getan, er war eben auch eitel wie jeder, und er hat sich solches Lob gerne sagen lassen. Er hat diesen Satz auf seiner weiteren Tournee sogar als eine Art Werbespruch vor sich hergetragen: »So schön wie ich spielt nur noch Apoll!«
    Mir scheint es ratsam, die Finger und die Worte von den Göttern zu lassen, man erregt nur ihre Aufmerksamkeit und ihren Ehrgeiz. Apoll hörte, wie da mit seinem Namen geprahlt wurde, er sah eine Weile lang vom Olymp aus zu, dann kam er herunter und sagte zu Marsyas: »Wenn du meinst, daß du so schön spielen kannst wie ich, dann laß uns doch einen Wettstreit abhalten. Ich auf der Lyra und du, Marsyas, auf deiner merkwürdigen zweiknochigen Flöte.«
    Fehler Nummer zwei: Marsyas stimmte zu.
    Apoll bestellte eine Jury, eine wirklich auserlesene Jury, das muß festgehalten werden, nämlich die Musen, die Göttinnen der Künste und der Wissenschaften, und die sollten beurteilen, wer nun tatsächlich schöner spielte.
    Bevor sie aber zu spielen begannen, sagte Apoll: »Weil ich der Gott bin und du, Marsyas, nur ein niedriger, schmutziger Satyr, werde ich die Regeln des Wettstreites bestimmen. Wer von uns beiden Sieger wird, der darf mit dem anderen machen, was er will.«
    Marsyas war wieder einverstanden. Es blieb ihm diesmal allerdings keine Wahl. Außerdem sah der eitle Dummkopf in der Tatsache, daß Apoll, Zeus’ erstgeborener Sohn, sich herabließ, ihm Bedingungen zu diktieren, ein Zugeständnis, daß er, der kleine, unbedeutende, schmutzige Satyr, dem großen, bedeutenden Gott überlegen sei – oder zumindest sein könnte, daß er eine reelle Chance habe gegen den strahlenden Sohn der Leto.
    Sie spielten – Apoll auf der Lyra, Marsyas auf dem Aulos. Und zunächst sah die Sache für den Satyr gar nicht so schlecht aus. Die Musen sagten: »Nein, wir können tatsächlich nicht feststellen, wer von euch der Bessere ist. Ihr seid beide gleich gut.«
    Und Apoll sagte: »Dann werde ich den Wettbewerb erweitern. Im folgenden sollst du, Marsyas, mir alles nachmachen, was ich mache. Wenn du das kannst, dann gebe ich mich geschlagen.«
    Nun wird es dem Marsyas wohl etwas mulmig geworden sein, aber er stimmte wieder zu.
    Apoll drehte seine Lyra um und spielte das Griffbrett linkshändig – und wurde somit gleich auch zum Stammvater aller linkshändigen Gitarristen von Jimi Hendrix bis Paul McCartney –, und er sagte: »Dreh du dein Instrument ebenfalls um, Marsyas! Und noch etwas!« Und der Gott begann zur Lyra zu singen. »So«, sang er, »mach es genauso! Sing, während du spielst!«
    Das geht vielleicht mit der Lyra, mit der Kithara geht das vielleicht, aber sicher nicht mit einem flötenähnlichen Instrument, wie es der Aulos ist. Erstens kommt nichts heraus, wenn man die Flöte umdreht und hinten hineinbläst, und zweitens kann kein Mensch Flöte spielen und gleichzeitig singen. Nicht einmal ein Gott kann das. Denn auch die Götter können mit den Dingen dieser Welt nicht nach Willkür verfahren.
    Also hatte Marsyas diesen Wettstreit verloren. Die Musen gaben den Siegerkranz an Apoll.
    Apoll sagte zu Marsyas: »Nun, wir hatten ausgemacht, der Sieger darf mit dem Verlierer machen, was er will. Ich bin der Sieger.«
    Er packte den kleinen Marsyas am Genick, hängte ihn an eine hohe Fichte und schabte ihm mit dem kuriosen Doppelknochen die Haut vom Körper. Die Musen standen dabei, und das Geschrei des Marsyas empfanden sie auch als eine Art von Musik. Denn die Musen verstehen es, in allen Dingen dieser Welt das Ästhetische zu sehen.
     
    Wir dürfen aber nicht glauben, daß Apoll einer gewesen sei, der neben sich keinen anderen hätte aufkommen lassen, keinen anderen Sänger, keinen anderen Lyraspieler. Das Gegenteil ist der Fall. Darum will ich nun die Geschichte des größten aller Sänger des griechischen
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