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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums
Autoren: Michael Köhlmeier
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und das Schiff fuhr ungehindert an dieser gefährlichen Stelle vorbei.
    Die Bücher, die über Orpheus geschrieben wurden, sind nicht zu zählen; auch Filme wurden gedreht, ich denke nur »Orphée« von Jean Cocteau, Comics wurden gezeichnet, sogar solche mit dem Etikett »besonders wertvoll« wie »Orphi und Eura« von Dino Buzzati. Und vieles mehr.
    Der Grund, warum Orpheus bis heute so berühmt und beliebt ist, liegt nicht in seinen militärischen Erfolgen beim Zug der Argonauten. Seinen Ruhm verdankt er einer Liebesgeschichte. – Es ist die Geschichte von Orpheus und Eurydike.
    Als er zurückkam von seiner Weltreise, traf er Eurydike. Und verliebte sich sofort in sie. Und auch Eurydike verliebte sich sofort in ihn. Sie waren das glücklichste und schönste Paar, das in der damaligen Welt anzutreffen war.
    Eurydike ging eines Tages hinaus auf das Feld, um Blumen für Orpheus zu pflücken, denn Orpheus war in die Stadt gefahren, um ein leichtes Tuch für Eurydike zu kaufen. Es war ein schläfriger Sommernachmittag, um die Blumen surrten die Bienen. Eurydike wartete, bis die Bienen ihren Nektar gehoben hatten, dann erst brach sie die Blumen.
    Die Bienen aber gehörten dem berühmtesten Bienenzüchter der Antike, nämlich Aristaios. Er hatte die Bienenzucht erfunden, er betrieb eine erfolgreiche Imkerei und belieferte den ganzen Erdkreis mit Honig, und nicht nur die Menschen, sondern auch die Götter belieferte er.
    Dieser Aristaios beobachtete Eurydike, wie sie sich niederbeugte, um die Blumen zu pflücken, und er war augenblicklich von Begierde erfüllt und rannte auf sie zu. Eurydike lief davon, Aristaios lief ihr hinterher, Eurydike hatte furchtbare Angst vor dem Mann, der so ein merkwürdiges Netz über dem Gesicht hatte, und sie blickte nicht auf den Boden und trat auf eine Schlange. Und diese Schlange biß sie in den Fuß, und daran starb Eurydike.
    Als Orpheus mit dem leichten Tuch aus der Stadt zurückkam, war seine geliebte Frau bereits tot.
    Er wurde von einer ungeheuren Trauer erfaßt, einer Trauer, wie sie die Welt bis dahin nicht für möglich gehalten hatte. Er aß nichts mehr. Er schlief nicht mehr. Er konnte keine Minute ruhig sein. Er komponierte im Gehen die wunderschönsten Trauerlieder, Trauerlieder, wie sie noch nie gehört worden waren. Diese Lieder sind leider alle verlorengegangen, weil er sie dem Wind auf den Straßen zur freien Verfügung überlassen hat, und der hat sie weggetragen. Wohin? The answer is blowin’ in the wind …
    Und schließlich machte sich Orpheus auf den Weg ans Ende der Welt. Er wanderte nach Süden, nach Süden, nach Süden, bis er die Südspitze des Peloponnes erreichte, und dort gibt es einen Eingang in das Totenreich, in das Reich des Hades. Vor diesen Eingang stellte sich Orpheus und spielte und sang, eingehüllt in die finstere Wolke der Trauer. Er wußte ja, daß Hermes, der Götterbote, der Gott der Diebe, auch der Führergott ist, der die Seelen sanft in die Unterwelt geleitet; Orpheus wußte, daß Hermes seine geliebte Eurydike durch diesen Eingang in die Unterwelt, in das grausige Reich der Schatten und der Toten, geführt hatte.
    Orpheus stand also mit seiner Lyra am Eingang und sang und spielte, und sein Spiel und sein Gesang waren nichts anderes als ein sehnsuchtsvolles Rufen nach Eurydike.
    Und es stellte sich heraus, daß sein Gesang und sein Spiel nicht nur Steine erweichen und Bäume und Sträucher zum Gehen und Tiere zum Lauschen und Tanzen und die Berge zum Reißen an ihren Wurzeln zwingen, sondern auch das Herz von Charon bezwingen konnte.
    Charon ist der Fährmann, der die Seelen in seinem Boot über den Fluß der Unterwelt, den Styx, hinüberführt. Und Charon, der es eigentlich besser wissen müßte, ihm ist ja aufgetragen, keinen Lebenden über diesen Fluß zu lassen, Charon ließ sich überreden durch diese Musik, ließ sich verführen, er ließ Orpheus, den Lebendigen, auf den Kahn steigen und setzte ihn über auf die andere Seite des Styx.
    Dort wartete Zerberus, der Höllenhund, der noch die zweite Sicherung war, damit kein Lebender in den Hades komme. Aber auch dieses vielköpfige Monster ließ sich vom Gesang des Orpheus verzaubern und ließ Orpheus passieren, und so betrat der Sänger die Unterwelt.
    Und während er immer tiefer in die absolute Finsternis schritt, spielte er auf seiner Lyra und hörte nicht auf zu singen und im Gesang nach seiner geliebten Eurydike zu rufen.
    Und siehe da: In das elende, langweilige, graue, jammervolle
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