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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums
Autoren: Michael Köhlmeier
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Reich der Toten kam so etwas wie Freude, so etwas wie eine vorübergehende Erleichterung. Aus allen Enden der Dunkelheit drängten die Toten, um die Lieder des Orpheus zu hören. – Sisyphos, der im Tartaros verurteilt ist, einen Stein auf einen Fels zu rollen, der immer wieder zurückfällt, der ihn wieder hinaufschieben muß, von wo er wieder hinunterrollt, dieser Zwangsneurotiker Sisyphos hielt in seiner sinnlosen Arbeit inne, setzte sich auf seinen Stein, lauschte auf die Musik. – Tantalos, der verflucht war, im Wasser zu stehen und über sich die leckersten Früchte zu sehen und dennoch vor Hunger und Durst fast umzukommen, er vergaß vorübergehend seine Qualen. – Persephone, die dunkle Königin der Unterwelt, und auch Hades, ihr königlicher Gemahl, sie lauschten dem Gesang des Orpheus, der um Eurydike klagte.
    Schließlich stimmte Persephone zu und sagte: »Du darfst deine Eurydike mit nach oben nehmen.«
    Hades aber knüpfte eine Bedingung daran, er sagte: »Du darfst das, aber du darfst dich nicht ein einziges Mal zu ihr umsehen, bis ihr beide das Licht der Welt wieder erblickt habt, bis ihr beide wieder über die Grenze, über den Styx, auf der anderen Seite seid.«
    Es gibt viele Abbildungen von Orpheus in der Unterwelt, bei allen ist eines gleich: Orpheus schaut mit leerem Blick vor sich nieder. Um ihn schweben die Seelen der Toten, stehen Persephone und Hades. Orpheus schaut niemandem ins Gesicht, auch seiner Eurydike nicht. Es ist verboten, den Toten und der Königin der Toten und dem König der Toten ins Gesicht zu blicken.
    Orpheus ging voran, Eurydike folgte ihm, so verließen sie den Hades. Orpheus spielte und sang, immer weiter, ohne Unterbrechung, er wußte, wenn er aufhört zu singen, dann fällt dieser Zauber zusammen. Eurydike folgte durch die Finsternis, und sie orientierte sich nach dem Klang seiner Stimme.
    Und als sie schon das Licht sahen, da drehte er sich doch nach ihr um. – Wir wissen nicht, warum er sich umgedreht hat. Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür. Er tat es. Vielleicht packte ihn der Alp des Perversen, dem Edgar Allan Poe eine seiner scharfsichtigsten Erzählungen gewidmet hat, dieser Ungeist, der die Menschen dazu antreibt, sich selbst zu schaden. Ich weiß es nicht … – Jedenfalls wurde in diesem Augenblick Eurydike für immer von Orpheus genommen. Hermes stand schon bereit und zog sie zurück in die Finsternis. Und nun war auch Charon nicht mehr umzustimmen, und Zerberus jagte Orpheus hinaus aus der Unterwelt, und er hatte seine geliebte Eurydike für immer verloren.
    Von nun an zog sich Orpheus aus der Welt zurück. Er liebte die Frauen nicht mehr. Er mied die Frauen, er gründete einen Orden und wurde der vielleicht einzige Mystiker des griechischen Altertums. Die Griechen hatten mit Mystik nichts im Sinn, derlei war ihnen unheimlich. Sie sahen auf die Welt mit den Augen des Mythos. Das muß genau unterschieden werden. Der mythische Blick ist im Grunde ein aufgeklärter Blick, auch wenn im Mythos wunderbare Dinge passieren. Diese wunderbaren, seltsamen Dinge sind ja auch nichts anderes als Erklärungsversuche. Dahinter steckt ein Aufklärungswille. Das Rätsel war den Griechen unheimlich. Sie wollten Rätsel nicht bestehen lassen. Rätsel waren – wie für uns – dazu da, um gelöst zu werden.
    Orpheus, den Dunklen, interessierten von nun an nur noch die Geheimnisse. Er gründete einen Männerorden. Dort traf er sich mit seinen Freunden, nachts trafen sie sich, er sang ihnen vor. Erzählte ihnen von seiner großen Liebe Eurydike und erzählte ihnen von seinem Besuch in der Unterwelt. Er erinnert uns an mittelalterliche Mönche. Mir fällt die traurige Liebesgeschichte zwischen Abälard und Heloise ein. Auch Abälard konnte seine Heloise nicht bekommen, und auch er hat sich aus der Welt zurückgezogen …
    Orpheus muß aber ein sehr attraktiver, schöner, für die Frauen begehrenswerter Mann gewesen sein. Er pflegte zwar nur noch den Umgang mit Männern, aber viele Frauen folgte ihm nach, lauschten von weitem seiner Stimme. Er ließ nicht zu, daß eine Frau vor sein Angesicht trat.
    Es wird von dionysischen Festen erzählt, die nachts zu seinen Ehren gefeiert wurden, und irgendwann war es den Frauen vielleicht zuviel geworden, daß Orpheus die Liebe ihrer Männer abgezogen hatte, oder aber sie begehrten ihn selbst so sehr, jedenfalls kam es zur Katastrophe. Die Frauen schlossen sich zusammen, überwältigten die Männer, stürzten sich auf Orpheus und
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