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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums
Autoren: Michael Köhlmeier
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Altertums erzählen, die Geschichte von Orpheus.
    Orpheus soll – und ich neige dazu, dies zu glauben – der Sohn des Apoll gewesen sein. Man kann sich sonst nicht erklären, daß jemand so verzaubernd singen konnte. Wer aber war die Mutter des Orpheus? – Ich möchte hier auf die erste Zeile aus Homers Ilias verweisen:
    »Singe, Göttin, den Zorn des Peleiden Achilleus …« Das ist ein Hinweis auf die Mutter des Orpheus, auf Kalliope. Kalliope heißt: die Schönstimmige. Sie ist die Patronin der epischen Dichtung.
    Kalliope die Mutter, Apoll der Vater, der Sohn: Orpheus, der bedeutendste, der größte, der schönste, der rätselhafteste Sänger der Antike. Über ihn hieß es: »In unendlichen Scharen kreisten die Vögel über seinem Haupt, und hoch sprangen die Fische aus dem dunkelblauen Meer ihm entgegen.«
    Die Tiere versammelten sich um ihn, wenn er zu singen und zu spielen begann, die Tiere des Wassers, die Tiere des Landes, die Tiere der Luft. Aber nicht nur die Tiere wandten sich ihm zu, sondern, wie es heißt, auch die Bäume und die Sträucher. Ich war vor kurzem in der kleinen Inselstadt Sirmione im Gardasee, wo der römische Dichter Catull seine Villa angelegt hat, und dort stehen im Hain des Catull uralte Olivenbäume. Sie sind so alt, daß ihre Stämme gespalten und zerrissen sind, und es sieht manchmal so aus, als ob es alte Männer wären, die sich im Schritt befinden, der Stamm geht unten zweifach in die Erde hinein. Und solche alten Olivenbäume kann man auch in Griechenland sehen, und man sagt, das seien die Olivenbäume, die Orpheus nachgelaufen sind.
    Es sind ihm auch die Erdhügel, die Steine, die Felsbrocken nachgefolgt, und die Berge hätten, so heißt es, an ihren breiten Wurzeln gerissen, so daß die Erde zu beben begonnen habe. Wenn man am Ufer steht und ins Meer hinausschaut, an manchen Stellen sieht man die Felsen wie Köpfe aus dem Meer herausragen. Man sagt, sie seien vom Meeresgrund aufgetaucht, um Orpheus singen zu hören.
    Orpheus bedeutet das Dunkle, und tatsächlich gab es ein Ereignis, das aus dem einst fröhlichen Sänger eine düstere, rätselhafte Gestalt machte …
    Ich will zunächst erzählen, woher er sein Instrument hatte. Seine Stimme zusammen mit diesem Instrument ergab ja erst diese alles bezwingende Musik. Und auch dieses Instrument, wie schon die Flöte des Marsyas, ist göttlichen Ursprungs.
    Orpheus hat es von seinem Vater Apoll bekommen, und diesem hat es wiederum Hermes, Apolls Halbbruder und olympischer Freund, geschenkt. Hermes ist einer der liebenswürdigsten Götter. Am ersten Tag in seinem Sein – um nicht zu sagen: in seinem Leben – kroch er aus den Windeln, hinaus aus seiner Höhle, dort fand das kleine Götterbaby eine Riesenschildkröte, der drehte er kurzerhand den Hals ab, riß ihr den Rückenpanzer vom Körper, spannte darüber Saiten und hatte somit im Handumdrehen die Lyra, die Kithara, unsere Gitarre erfunden. Und weil er an demselben ersten Tag seinem Halbbruder Apoll einen frechen Streich gespielt hatte und dieser ihm vorübergehend zürnte, hat er ihm die Lyra als Versöhnungsgeschenk überlassen.
    Und Apoll hat sie an seinen Lieblingssänger Orpheus weitergegeben. Und auf diesem Instrument hat Orpheus seinen wunderbaren Gesang begleitet.
    Orpheus war einer der Argonauten, die auf dem Schiff Argo durch die Welt gesegelt sind. Er war für die Besatzung der Argo nicht irgendein Sänger, ein lästiges kulturelles Anhängsel, so eine Art Troubadix, wie wir ihn von Asterix und Obelix kennen, dem gleich der Mund zugebunden wird, sobald er nur einen Laut von sich gibt – nein, Orpheus war auch aus militärischen Gründen für die Besatzung der Argo äußerst wichtig. Man stelle sich vor, was das für ein militärischer Vorteil ist, wenn man dem Feind gegenübersteht, und noch bevor ein Schuß abgegeben wird, beginnt der Sänger auf der eigenen Seite zu singen, und die Gegner sind so hingerissen von dieser Musik, daß sie die Waffen sinken lassen und sich niedersetzen, um zu lauschen. Und während die Stimme des Sängers noch erschallt, kann man in aller Ruhe den Feinden die Kehlen durchschneiden.
    Ein anderes Beispiel für die Nützlichkeit der Musik an Bord der Argo: Orpheus hat die Mannschaft auch vor den Sirenen gerettet. Auf die Sirenen werden wir noch zu sprechen kommen, wenn wir von Odysseus berichten. Als die Argo an der Insel dieser verlockenden Ungeheuer vorüberfuhr, hat Orpheus so laut gesungen, daß die Sirenen dagegen nicht ankamen,
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