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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem
Autoren: William Ryan
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Braue wandte er sich dem Sarg auf dem befleckten Altar zu. »Hätte man mich gefragt, hätte ich mich dagegen ausgesprochen, es hier zu veranstalten. Haben Sie davon gewusst?«
    »Nein.«
    »Ich auch nicht. Auf der Ankündigung stand nur die Adresse. Merkwürdig, dass er nichts von seiner Mitgliedschaft hier erwähnt hat. Aber er hat uns ja auch sonst nicht so viel erzählt, wie sich inzwischen gezeigt hat. Wirklich ein Jammer - aus dem Jungen wäre bestimmt ein fähiger Ermittler geworden, wenn er bei uns weitergemacht hätte.«
    Während der flüsternd geführten Unterhaltung waren sie bis zum Sarg vorgerückt. Koroljow betrachtete Semjonows graues Gesicht, das schmaler war, als er es in Erinnerung hatte, und weich, fast schlaff. Nur um die Wangenknochen und die Nase war die Haut straff gespannt. Er küsste den Jungen auf die glatte Stirn und schob ihm ein einzelnes Haar aus dem Gesicht. Ohne Seele war Semjonows Körper nichts - eine leere Hülle, die roch wie das Meer bei Ebbe. Mit einer Träne im Augenwinkel dachte er darüber nach, wie sinnlos der Tod dieses Menschen war, der kaum das Erwachsenenalter erreicht hatte.
    Als er sich vom Sarg abwandte, bemerkte er, dass sich der Raum gefüllt hatte. In den Ecken unterhielten sich Männer mit grimmigen Gesichtern, die Uniformjacken von guter Qualität trugen. Tschekisten, wie Koroljow vermutete.
    »Sie wollen ihm einen Orden verleihen. Ihnen auch. Und jetzt überlegen Sie mal, welchen.« Ein leises Lächeln huschte über die Lippen des Generals. »Sie wollen Sie dafür ehren, dass Sie die Verräter entlarvt haben, aber in aller Stille. Die Schießerei auf der Woronzowo Pole hat nie stattgefunden.«
    »Oberst Rodinow hat mich bereits davon in Kenntnis gesetzt.«
    Der General ließ sich auf einen Stuhl in der ersten Reihe nieder und winkte Koroljow neben sich. »Sie sollen die ganze Angelegenheit vergessen. Die weiteren Nachforschungen wird der NKWD übernehmen. Und diesmal handelt es sich wirklich um ein absolutes Verbot, Alexei Dimitrijewitsch.«
    »Ich verstehe«, erwiderte Koroljow, obwohl es noch eine offene Frage gab, der er trotz aller Ermahnungen nachgehen wollte.
    »Gut. Sie haben ja keine Ahnung, was Sie für ein Schwein hatten. Jeschow wollte alle erschießen lassen, die an dem Fall beteiligt waren, um jedes weitere Durchsickern von Informationen zu verhindern. Wenn Gott existieren würde, was er natürlich nicht tut, würde ich sagen, er ist auf Ihrer Seite. Wissen Sie, was passiert ist? Stalin hat im Garten des Kreml einen Spaziergang gemacht, als oben das Kolchosedorf vorbeigeschwebt ist. Das hat ihn amüsiert - mehr war es nicht. Nur diesem Umstand haben Sie Ihr Leben zu verdanken. Wenn es ihn nicht amüsiert hätte, wenn Gregorin in eine andere Richtung geflohen wäre, wenn die Soldaten die Seile festgehalten hätten oder wenn hundert andere Dinge passiert wären - dann wären Sie jetzt tot. Und ich mit großer Wahrscheinlichkeit auch.«
    Koroljow versuchte sich vorzustellen, wie Stalin über ein aufblasbares Dorf lachte, das über Moskau schwebte. Es fiel ihm schwer.
    »Außerdem können Sie von Glück sagen, dass später noch Wind aufgekommen ist«, fügte der General gedankenverloren hinzu. »Denn er hätte sich wahrscheinlich nicht mehr amüsiert, wenn der Beitrag der Luftwaffe zur Parade abgesagt worden wäre.«
    Koroljow erinnerte sich an die vielen Bomberstaffeln, die über Moskau hinweggedonnert waren: eine Demonstration sowjetischer Stärke am neunzehnten Jahrestag der Revolution. Schweigend sannen sie über die lächerlichen Launen des Schicksals nach.
    »Was ist damit passiert? Mit dem Dorf, meine ich?«, fragte Koroljow.
    »Die meisten Häuser wurden abgeschossen. Aber ein Gebäude konnte anscheinend entkommen. Es wurde schon mehrfach gesichtet. Angeblich ist es auf dem Weg nach Finnland.«
    »Ob es der Ballon wohl schaffen wird?« Koroljow dachte an Gregorins Fluchtpläne.
    Dann richtete sich die Aufmerksamkeit aller auf den Eingang, wo Bewegung entstanden war. Koroljow erkannte Rodinow und dachte zunächst, dass die Reaktion der Anwesenden dem Oberst galt, doch dann fiel ihm der Mann auf, dessen großspuriges Auftreten nicht so recht zu seiner kleinen Statur passen wollte. Über dem knochigen Gesicht des Kommissars für Staatssicherheit Jeschow saß eine Militärmütze, und er bleckte die gelben Zähne zu einem Lächeln, das die Augen nicht erreichte. Alle sprangen auf, doch Jeschow winkte sie mit jener besonderen Geste zurück auf ihre
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