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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem
Autoren: William Ryan
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Semjonow, sondern auch ihm selbst. Einen Freund zu verlieren und einen Menschen zu töten war schwer, und er hatte vor zwei Tagen beides erlebt. Es tat ihm nicht leid um Gregorin, aber trotzdem wäre es ihm lieber gewesen, wenn jemand anders auf den Abzug gedrückt hätte. Nicht einmal ein guter Schuss war es gewesen -Koroljow hatte auf Gregorins Brust gezielt und ihn knapp über dem linken Auge getroffen -, der den Oberst ausgelöscht hatte wie eine Kerze. Wenn man dem Leben eines anderen so jäh ein Ende setzte – nun, dann musste man an seine eigene Sterblichkeit denken, und das war nie angenehm.
    Vielleicht war es die Erinnerung an den sterbenden Semjonow im Korridor, Koroljow hätte es später nicht sagen können, doch seine rechte Hand hob sich wie von selbst und schlug in aller Öffentlichkeit das Kreuzzeichen. Und einen Augenblick lang empfand er keine Furcht vor den Folgen, nur tiefen Frieden.
    Im Wagen redeten sie nicht miteinander. Das lag zum Teil an der Anwesenheit des Fahrers, aber auch daran, dass es nicht viel zu sagen gab. Auch beim Betreten des Metropol kam keine Unterhaltung in Gang.
    Erst als Schwartz die Tür zu seinem Zimmer öffnete, brach er das Schweigen. »Nach Ihnen.«
    Koroljow trat ein und erkannte trotz des Halbdunkels ein riesiges Bett, zwei elegant geschwungene Sessel, einen Schreibtisch, die dunkle Tapete, die übereinandergestapelten Packkisten und die vielen Gesichter, die vom Boden zu ihm hinaufstarrten.
    Eine Ikone neben der anderen lehnte an der hohen Sockelleiste, die den Raum umgab, und in ihren goldenen Strahlenkränzen brach sich das schwache, durch halbgeschlossene Vorhänge einfallende Sonnenlicht. Langsam ließ Koroljow den Blick über die frommen Figuren wandern, die Christus in jedem Alter, Heilige und natürlich die Muttergottes abbildeten.
    Nahezu zwanzig Darstellungen der Jungfrau in vielen traditionellen Formen waren versammelt, und fünf davon waren Kasanskajas. Alle wirkten sehr alt, und er betrachtete sie längere Zeit schweigend, gefesselt von den kleinen Abweichungen.
    Dann hatte er begriffen. »Wirklich schlau«, flüsterte er.
    Schwartz nickte nur bestätigend. »Ich packe sie jetzt ein. Sie begleiten mich im Zug nach Hamburg, und von dort fahre ich mit dem Schiff weiter.«
    Es war brillant: Welches Versteck hätte sich für eine Ikone besser geeignet als die Gesellschaft anderer Ikonen? Wieder wandte er sich den Kasanskajas zu. »Und?«
    »Wir werden es nie mit Sicherheit wissen. Aber es ist eine Frage des Glaubens, nicht der Wahrheit. Und hier ist genug Wahrheit, auf der der Glauben ruhen kann.«
    Koroljow spürte den Blick der Gottesmutter auf sich, als stünde sie leibhaftig im Zimmer. Er wollte fragen, welche Ikone die echte war, aber er tat es nicht. Es war nicht nötig. Er hatte keinen Zweifel mehr, nur eine von ihnen konnte es sein. Die, die tief in seine Seele schaute. Doch er verzichtete darauf, sich hinzuknien, sich zu bekreuzigen und zu beten. »Was wird in Amerika mit ihr geschehen?«
    Schwartz überlegte kurz. »Nichts, wahrscheinlich. Sie werden warten, bis sich die Dinge ändern.«
    Koroljow betrachtete die Ikonen und nickte. Schließlich streckte er dem Amerikaner die Hand hin. »Gute Reise, Jack. Vielleicht kommen Sie eines Tages wieder nach Moskau.«
    »Vielleicht«, antwortete Schwartz.
    Dann zog Koroljow die Tür hinter sich zu und verließ das Hotel.
    Er ließ sich Zeit für den Rückweg und spielte im Kopf durch, was er nach seiner Ankunft sagen wollte. Als er die Wohnungstür öffnete, hatte er sich alles reiflich überlegt. Walentina Nikolajewna stand neben dem Tisch, als hätte sie auf ihn gewartet.
    Ohne Umschweife kam er zur Sache. »Walentina Nikolajewna, ich habe nachgedacht. Es ist meine Schuld, dass diese Männer in Ihr Zuhause eingedrungen sind, und ich kann mir nicht verzeihen, was hier geschehen ist.
    Also habe ich beschlossen, die Wohnung zu verlassen. Ich kann wieder zu meinem Cousin ziehen, aber ich werde weder Luborow noch jemand anders etwas davon erzählen. Wenn ich weiter hier gemeldet bleibe, haben Sie die ganze Wohnung wieder für sich. Das reicht natürlich nicht als Wiedergutmachung, ich weiß, aber es ist wenigstens etwas.«
    Sie musterte ihn eine Weile, dann schüttelte sie den Kopf. »Vielen Dank für Ihr Angebot, Alexei Dimitrijewitsch. Es ist sehr freundlich von Ihnen, aber nicht nötig. Es war nicht Ihre Schuld, dass die Männer eingedrungen sind, sie sind von selbst gekommen. Sie sind nicht verantwortlich
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