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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem
Autoren: William Ryan
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Plätze, die auch Stalin verwendete: bescheiden und zugleich machtbewusst.
    Rodinow flüsterte dem Kommissar etwas ins Ohr, und dieser nickte zustimmend, ehe er sich ganz hinten auf einen Stuhl neben einer hübschen braunhaarigen Frau in schwarzer Trauerkleidung setzte. Ein Mann gesellte sich zu ihnen, und Koroljow standen die Haare zu Berge, als er Babel erkannte. Der Schriftsteller zwinkerte ihm zu, und Koroljow hätte geschworen, dass er ein Funkeln im Auge hatte, als er sich Jeschows Frau zuwandte.
    Rodinow war inzwischen an ein kleines Pult neben dem Sarg getreten und entfaltete ein Blatt Papier. Er trug einen Anzug, den er eigens für den Anlass erworben zu haben schien.
    »Liebe Genossen.« Der Oberst blickte in die Runde. »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, um dem loyalen Komsomol-Mitglied und Sowjetbürger Iwan Iwanowitsch Semjonow die letzte Ehre zu erweisen. Ich danke Ihnen im Namen seiner Familie, seiner Genossen und seiner Kameraden beim Komsomol.«
    Ein Schluchzen war zu hören, und Koroljow bemerkte eine gramgebeugte Frau in mittleren Jahren. In ihrem tränenüberströmten Gesicht lag ein Widerhall von Semjonows Zügen. Er betete darum, nie seinen eigenen Sohn zu Grabe tragen zu müssen.
    »Was lässt sich mehr zum Lob unseres geliebten Genossen sagen als dies: Er war ein kultivierter Mensch, zutiefst überzeugt vom historischen Imperativ des internationalen Sozialismus, engagiert im Aufbau der Sowjetunion und ein treues und loyales Komsomol-Mitglied mit einem makellosen, aufrichtigen Lebenslauf.«
    Es ließ sich mehr sagen. Viel mehr. Doch schließlich faltete Rodinow sein Blatt wieder zusammen und nickte der Ehrengarde zu. Die jungen Männer wechselten verwirrte, fast verängstigte Blicke, ehe einer mit fragendem Ausdruck nach dem Sargdeckel griff. Sichtlich gereizt wiederholte Rodinow sein Nicken, dann schlossen seine Genossen den armen Semjonow mit hastigen Händen für immer in seinen einsamen Holzkasten.
     

28
    Auf der Straße blieben die Leute stehen, um dem Sarg des jungen Tschekisten und seiner Ehrengarde nachzublicken, die sich an den Holzwänden festklammerte, während der Lastwagen über Schlaglöcher holperte. Manche nahmen die Mütze ab, und der eine oder andere bekreuzigte sich sogar. Die meisten beobachteten voller Neugier den langen Trauerzug blankpolierter schwarzer Automobile. Koroljow musste unwillkürlich lächeln. Die Bestattung dieses bolschewistischen Helden war zwar geheim, aber zugleich eine ziemlich öffentliche Veranstaltung.
    Jeschow tauchte nicht auf dem Friedhof auf. Irgendwo war sein Wagen wohl abgebogen und hatte den Kommissar zu einer wichtigeren Verabredung gefahren. Von den Hunderten, die der trockenen offiziellen Bestattungszeremonie in der Kirche beigewohnt hatten, fanden höchstens achtzig den Weg zum Grab.
    Aber es waren auch einige neue Trauergäste eingetroffen. Schwartz stand ein wenig abseits von der Hauptgruppe, und Koroljow erspähte auch Walentina Nikolajewna zusammen mit Schura und Babels Frau. Er fragte sich, wo Natascha war. Seit den schrecklichen Ereignissen vor zwei Tagen hatte das Mädchen praktisch kein Wort mehr hervorgebracht. Zum hundertsten Mal verfluchte er sich für das Grauen, das er über seine Mitbewohnerinnen gebracht hatte.
    Als er sich umschaute, stellte er fest, dass die mutmaßlichen Tschekisten allesamt verschwunden waren und sich auch die Atmosphäre entsprechend verändert hatte. Einige Frauen schluchzten jetzt offen, und mehrere Leute hatten sich um Semjonows Mutter geschart, wobei nicht genau zu erkennen war, ob sie sie stützten oder selbst gestützt werden wollten.
    Nun war es an Popow, eine Rede zu halten, und er postierte sich am Kopf des Sarges, wo früher der Platz des Priesters gewesen war. Mit leiser Stimme wies er die Ehrengardisten an, breite Drillichbänder unter den Sarg zu schlingen und ihn langsam ins Grab hinabzusenken. Während Semjonow Zentimeter für Zentimeter nach unten glitt, begann Popow seine Rede.
    »Das Leben geht weiter, Genossen. Wir sind nur eine Stufe in der Evolution der Geschichte. Wenn wir uns an unseren gefallenen Genossen erinnern wollen, so sollten wir es tun, indem wir Iwan Iwanowitschs Arbeit für eine bessere Zukunft des Proletariats fortsetzen. Lasst uns diesen Kampf weiterführen und bereit sein, unser Leben für unsere Genossen zu opfern, so wie Iwan Iwanowitsch es getan hat. In unserem Einsatz wird sein Andenken Bestand haben. Wir werden beenden, was er und viele andere, die für
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