Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem
Autoren: William Ryan
Vom Netzwerk:
die Revolution ihr Leben gelassen haben, begonnen haben. Er war einer aus dem Volk, und das Volk wird, seinem leuchtenden Beispiel folgend, in die Zukunft marschieren.«
    Tief hallte die Stimme des Generals über das Grab, schonungslos, aber auch sanft, tatsächlich fast wie die eines Priesters. Nach der Grabrede bemerkte Koroljow nicht wenige Trauernde, die sich bekreuzigten.
    Als er sich zur Seite wandte, stand Schwartz neben ihm. »Hallo, Jack.«
    »Hallo, Alexei. Das mit Wanja tut mir leid. Er war ein guter Junge.«
    »Am Ende auch ein guter Mann. Sie sollten ihm dankbar sein.« Als Schwartz fragend die Stirn runzelte, setzte er hinzu: »Wenn er nicht gewesen wäre, hätte Gregorin Ihnen im Metropol einen Besuch abgestattet. Und er war nicht besonders gut gelaunt - anscheinend dachte er, dass Sie ihn reingelegt haben. Dass Sie die Ikone gestohlen haben.«
    Das entsprach nicht ganz den Tatsachen, aber er war neugierig auf Schwartz' Reaktion. Wenn es eine gab, dann so unmerklich, dass Koroljow nichts davon mitbekam. Aber auch das war schon aufschlussreich.
    »Die Ikone?«
    »Ach kommen Sie, Jack. Wenn ich Ihnen Scherereien machen wollte, wären Sie schon längst in einer Zelle in der Lubjanka. Und ich glaube nicht, dass es Ihnen dort gefallen würde.«
    Schwartz schaute sich vorsichtig um, als hätte er den Verdacht, in eine Falle geraten zu sein. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Haben Sie mir deswegen heute eine Nachricht im Hotel hinterlassen? Um mich erneut zu befragen?« Der Amerikaner blieb äußerlich ruhig, und jeder zufällige Beobachter hätte angenommen, dass sie ein ernstes Gespräch über den armen Semjonow führten.
    »Meine Fragen sind nicht offiziell, Jack. Aber wenn man so oft wie ich letzte Woche beinahe sein Leben verliert, möchte man doch gern die Gründe dafür erfahren. Vielleicht schulde ich es auch Wanja, der Sache auf den Grund zu gehen.«
    »Und Sie sind der Meinung, dass ich Ihnen da weiterhelfen kann?«
    »Nennen wir es den Instinkt eines Kriminalermittlers. Sie haben mir selbst erzählt, dass die Kirche Sie gebeten hat, die Ikone zu erwerben. Sie sind im Zug aus Berlin zusammen mit Nancy Dolan gereist. Und auch der verstorbene, aber keineswegs schmerzlich vermisste Oberst Gregorin hat sich an Sie gewandt, um die Ikone zu verkaufen. Damit stehen Sie fast genauso im Zentrum des Geschehens wie die Ikone selbst. Ehrlich gesagt, wäre ich nicht überrascht, wenn sich herausstellen würde, dass Sie auch noch Graf Koljas Schwager sind.«
    Schwartz zuckte wegwerfend die Achseln.
    »Außerdem haben Sie sich nicht nach der Ikone erkundigt. Und eigentlich hätte das doch Ihre erste Frage sein müssen.«
    Der Amerikaner schlug einen trockenen Ton an. »Wissen Sie, wo sie ist?«
    Koroljow war sich nicht sicher, ob er auf den Arm genommen wurde. »Nein, Jack. Aber ich könnte mir vorstellen, dass sie schnell gefunden wäre, wenn ich zwanzig Milizionäre zusammentrommeln und ein bisschen in Ihrer Umgebung herumschnüffeln würde. Was halten Sie von dieser Idee?«
    »Wahrscheinlich würde es mir dann nicht so leichtfallen, morgen das Land zu verlassen.«
    »Sie wollen also abreisen? Auch das macht mich misstrauisch. Warum sollten Sie das tun, solange noch die Chance besteht, die Ikone zu erwerben? Ich nehme an, Sie bekommen einen prozentualen Anteil des Verkaufspreises. Selbst bei einem kleinen Anteil von einer Million Dollar würde sich das Warten wohl lohnen.«
    Schwartz runzelte die Stirn. »Ist es das, was Sie wollen, Alexei? Geld?«
    »Geld, Jack? Ich glaube nicht. Kolja hatte Recht, ich bin nicht ganz der pflichtbewusste Sowjetbürger, für den ich mich immer gehalten habe, aber käuflich bin ich auch nicht. Ich möchte nur ein paar Antworten. Nur für mich. Die Tatsache, dass Sie nicht von weniger höflichen Leuten verhört werden, sollte Ihnen als Gewähr für meine Diskretion genügen. Und auch, dass in der Stadt nicht jeder Stein umgedreht wird, um die Ikone aufzuspüren.«
    Schwartz lächelte wie über einen längst vergessenen Witz. »Am Haupttor steht mein Wagen. Begleiten Sie mich zum Hotel?«
    Nach kurzer Überlegung nickte Koroljow. »Geben Sie mir fünf Minuten.«
    »Natürlich.«
    Nachdem er ihm nachgeblickt hatte, trat Koroljow ans Grab. Zwei Arbeiter - grobknochige Bauern aus einer weit entfernten Republik - schaufelten es mit Erde voll, und er beobachtete, wie die letzte Ecke von Semjonows Sarg verschwand.
    Er war erfüllt von Trauer, kein Zweifel, aber sie galt nicht nur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher