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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem
Autoren: William Ryan
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die irrationale Anwandlung beiseite. Solche Regungen konnte er sich jetzt nicht leisten. Vom ersten Tag an hatte man ihn vor unangebrachtem Mitgefühl gewarnt und ihm eingebläut, zu welchen Fehlern es führen konnte. Er musste sie aufwecken und noch einen letzten Versuch unternehmen.
    Er legte ihr zwei Finger an den Hals. Ganz schwach spürte er ihren Puls. Er erhob sich und griff nach dem Riechsalz. An der Flasche klebte Blut, weil er sie schon zweimal verwendet hatte. Eigentlich hätte er sie am liebsten einschlafen lassen, aber er hatte seine Anweisungen. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie sprach, sehr gering war, bestand noch eine Chance. Er entkorkte die Flasche und zog den Kopf der Frau zu sich. Sie sträubte sich gegen seine Hand, eine Bewegung ohne Kraft.
    Zuerst bemerkte er keine Veränderung, aber als er die Flasche abstellte, folgte ihm ihr Blick, und es hatte sogar den Anschein, als wollte sie sprechen. Er packte sein Messer und schnitt hastig durch Haut und Stoff, um ihr den Knebel zu entfernen. Als er das Tuch von ihrem Mund zerrte, hustete sie. Blut hatte ihre weißen Zähne verschmiert, und er bemerkte, wie dünn und grau ihre Lippen waren. Durch die Anstrengung hatte sich ihr Atem beschleunigt, doch jetzt wurde sie wieder ruhiger und konzentrierte sich auf ihn. Er drehte sich ein wenig zur Seite, damit er sie hören konnte, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, und sie flüsterte etwas Unverständliches. Er schüttelte den Kopf und beugte sich tiefer zu ihr, um auf ihre Worte zu lauschen. Sie holte tief Luft, ohne die Augen von ihm zu nehmen.
    »Ich vergebe dir.« Es klang beinahe, als wollte sie sich über ihn lustig machen.
     

1
    Später als üblich stieg Hauptmann Alexei Dimitrijewitsch Koroljow die Stufen vor der Petrowka-Straße 38 hinauf, dem Hauptquartier der Moskauer Kriminalmiliz. Der Vormittag hatte schlecht angefangen und traf auch keine Anstalten, besser zu werden, zumal er die dröhnenden Wodkakopfschmerzen vom Vorabend noch immer nicht abgeschüttelt hatte. Und so stieß er die schwere Eichentür mit müder Ergebenheit auf statt mit stachanowistischer Begeisterung. Seine von der Morgensonne geblendeten Augen brauchten einen Moment, um sich an die relative Dunkelheit in der Vorhalle zu gewöhnen, und es war auch nicht gerade nützlich, dass dichte Staubschwaden herumwirbelten an einem Ort, wo er geschäftige Offiziere in Uniform erwartet hatte. Was war denn hier los? Verwirrt blieb er stehen und versuchte zu erkennen, woher der viele Schuttstaub kam. Schließlich nahm er in dem wogenden Dunst auf dem Treppenabsatz eine verschwommene Bewegung wahr. Genau dort, wo die Statue des ehemaligen Generalkommissars für Staatssicherheit Genrich Grigorjewitsch Jagoda stand. Wenn er sich nicht irrte, endete die Bewegung mit dem Aufprall eines wuchtigen Gegenstands auf den Sockel des früheren Generalkommissars. Der Krach, der vom Marmor auf dem Boden und den Wänden des Atriums noch verstärkt wurde, traf Koroljow wie ein Schlag ins Gesicht.
    Schließlich setzte er seinen Weg fort. Als er zum Treppenabsatz hinaufstieg, knirschten unter seinen Sohlen Bruchstücke. Der in Decken gehüllte Kommissar war nur eine undeutliche Gestalt, um deren Fundament sich vier Arbeiter mit nacktem Oberkörper mit Brecheisen, Hämmern und einem mechanischen Bohrer abmühten. Ihr Ziel war es offenbar, die Statue zu beseitigen, aber der Sockel hatte anscheinend andere Vorstellungen. Als sich Koroljow näherte, blickte einer der Arbeiter lächelnd auf, und die Maske aus grauem Staub auf seinem Gesicht zerriss.
    »Die wollten, dass der Genosse Kommissar dableibt, bis das Haus zusammenstürzt, so viel steht fest. Er ist direkt in den Boden zementiert. Wir können von Glück sagen, wenn wir ihn in einem Stück rauskriegen.«
    Koroljow sah, wie ein anderer Arbeiter den Vorschlaghammer durch die Luft sausen ließ, der auf einen Meißel traf. Brocken spritzten in alle Richtungen, als sich das Metall tiefer in den Marmorblock bohrte, auf dem der Kommissar ruhte. Koroljow schluckte mehrmals. Seine Zunge fühlte sich an, als hätte er Sand gegessen.
    »Endlich, er hat sich bewegt. Den kriegen wir schon noch raus.« Der Mann mit dem Hammer spuckte auf den Boden, und der dunkle Klumpen landete im Schutt zu seinen Füßen. Koroljow nickte bedächtig. Zu dieser List griff er immer, wenn er keine Ahnung hatte, was eigentlich vor sich ging. Nach seinem Kenntnisstand war Jagoda noch immer ein respektables Mitglied des
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