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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem
Autoren: William Ryan
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Politbüros, das entsprechenden Respekt verdiente. Offenbar hatte sich etwas verändert, da die Statue entfernt wurde. Mit einem barschen »Guten Morgen, Genossen« stapfte er an den Arbeitern vorbei. Im Oktober des Jahres 1936 tat man in Moskau gut daran, sich nicht zu solchen Dingen zu äußern, namentlich nicht, wenn man einen schweren Kater hatte. Mit seinen eins zweiundachtzig war Koroljow ein Mann von deutlich überdurchschnittlicher Körpergröße, zumindest nach den Zahlen, die das Gesundheitsministerium letzte Woche veröffentlicht hatte. Auch sein Gewicht lag über dem des sowjetischen Normbürgers. Dies führte er jedoch auf seine Größe zurück und keinesfalls auf zu reichliche Ernährung, die in dieser Ära des Übergangs zum vollständigen Kommunismus gar nicht möglich gewesen wäre. Auf jeden Fall brachte seine Statur durchaus Vorteile mit sich, wenn ein wenig Muskelkraft benötigt wurde.
    Sein Äußeres entsprach dem, was er war: ein Milizbeamter von beträchtlicher Erfahrung. Wahrscheinlich war es nicht unbedingt von Nutzen, dass er ein derbes Gesicht hatte, wie man es oft bei Polizisten antraf: kantiges Kinn, grobe Wangenknochen und eine wettergegerbte Haut von den Jahren in Sonne und Schnee. Selbst das kurze braune Haar, das an seinem Schädel klebte wie totes Gras, markierte ihn als Bullen. Seltsamerweise verlieh ihm die breite, von seinem linken Ohr bis zur Kinnspitze verlaufende Narbe, ein Andenken an die Begegnung mit einem Kosaken der Weißen Armee im Bürgerkrieg, eher eine leutselige als eine grimmige Note. Vor allem aber waren es Koroljows freundliche und vorsichtig amüsierte Augen, die ihn davor bewahrten, wie ein Schläger zu wirken. Aus irgendeinem Grund hielten ihn die Bürger für einen guten Kerl, selbst wenn er sie gerade verhaftete, und nicht selten vertrauten sie ihm Gedanken und Informationen an, die sie eigentlich lieber nicht preisgegeben hätten. Aber diese Augen täuschten. Koroljow hatte sich sieben Jahre lang von der Ukraine bis Sibirien und wieder zurück durchgeschlagen, hatte gegen Deutsche, Österreicher, Polen und alle anderen gekämpft, die mit einem Gewehr auf ihn zielten, und hatte mit mehr oder weniger heiler Haut überlebt. Wenn es darauf ankam, war er alles andere als weich.
    Koroljow kratzte sich am Nacken, während er zum zweiten Stock hinaufstieg und überlegte, was die Entfernung von Kommissar Jagodas Statue für die Kriminalabteilung der Moskauer Miliz bedeuten könnte. Bislang umfassten die Aufgaben der Arbeiter- und Bauernmiliz, wie die Polizei der Sowjetunion offiziell hieß, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die Regelung des Verkehrs, die Bewachung bedeutender Gebäude und natürlich die Untersuchung und Verhinderung von Verbrechen. Letzteres war der Bereich, für den er und der Rest der Kriminalmiliz verantwortlich waren. Für die politische Arbeit war zum größten Teil der NKWD zuständig, die Staatssicherheit. Allerdings war in einem Arbeiterstaat fast alles bis zu einem gewissen Grad politisch. In den Augen mancher stellte jede Straftat einen Angriff auf das gesamte sozialistische System dar. Immerhin galt fürs Erste noch die Unterscheidung zwischen herkömmlichen und politischen Verbrechen. Natürlich halfen die uniformierten Milizionäre dem NKWD häufig in politischen Angelegenheiten - das tat sogar die Rote Armee gelegentlich -, doch meistens befasste sie sich mit gewöhnlicher Kriminalität. Koroljow und seine Kollegen durften sich auf das konzentrieren, wovon sie am meisten verstanden: die Verfolgung und Ergreifung von Tätern, deren Vergehen nicht in die Zuständigkeit der normalen Miliz fielen, aber auch nicht in die politische Sphäre vordrangen. Wenn also die Moskauer über die Kriminalmiliz in der Petrowka-Straße 38 sprachen, so taten sie es auf ähnliche Weise wie die Londoner über Scotland Yard. Ganz anders verhielt es sich hingegen mit der Lubjanka, falls man es überhaupt wagte, das gefürchtete Hauptquartier des NKWD zu erwähnen. Koroljow hoffte, dass sich die Petrowka-Straße ihren positiven Ruf auch weiterhin bewahren konnte.
    Dummerweise war es inzwischen so, dass die Miliz und damit auch die Moskauer Kriminalabteilung zum Ministerium für Staatssicherheit gehörten. Wenn die Bürger von den »Organen« redeten - den Organen der Staatssicherheit -, meinten sie sowohl den NKWD als auch die Miliz. Und es war durchaus denkbar, dass der neue Generalkommissar Jeschow auch der Miliz eine stärker politische Rolle
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