Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem
Autoren: William Ryan
Vom Netzwerk:
gelegt hatte, wo sie hingehörte, schaltete er das Leselicht an und schlug eine Akte auf, die er in einigen Stunden im Staatsanwaltsbüro abgeben sollte. Plötzlich fiel ihm die sonderbar angespannte Stille im Zimmer auf.
    Koroljow blickte hoch. »Genossen?« Die anderen starrten ihn mit offenem Mund an, auf ihren Gesichtern spiegelte sich eine Mischung aus Angst und Mitleid. Larinin wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß vom haarlosen Haupt.
    »In der Lubjanka, Alexei Dimitrijewitsch?«, entfuhr es dem Zweiten Leutnant Iwan Iwanowitsch Semjonow. Mit erst zweiundzwanzig Jahren war er der jüngste Kriminalbeamte im Zimmer, und manchmal, so wie jetzt, wirkte er sogar noch jünger. Mit dem blonden Lockenkopf, dem fast weiblich guten Aussehen und dem ernsten, freimütigen Benehmen hätte er auch ein Plakat der Jugendorganisation Komsomol zieren können. Semjonow war erst seit zwei Monaten bei ihnen - meistens half er Koroljow bei einfachen Aufgaben, um alles von der Pike auf zu lernen - und hatte noch nicht begriffen, dass man nicht immer sagen durfte, was einem durch den Kopf schoss.
    »Ja, Iwan Iwanowitsch«, erwiderte Koroljow. »Genosse Gregorin möchte, dass ich vor den Kadetten des Abschlussjahrgangs an der NKWD-Oberschule einen Vortrag halte.«
    Schlagartig entspannten sich die drei Männer. Larinins blasses Gesicht schien auf einmal weniger käsig, Semjonow lächelte, und Jasimow, ein drahtiger Mann in Koroljows Alter mit dem Gesicht eines Professors und scharfer Zunge, lehnte sich zurück und zuckte leicht, als sich durch die Bewegung seine alte Bauchverletzung dehnte. Er zupfte am Ende seines dünnen, gepflegten Schnurrbarts.
    »Deswegen trägst du also Uniform, Ljoschka. Wir dachten schon, dass es einen anderen Grund dafür gibt. Man sieht dich so selten in so einem Ding.« Da er schon seit zwölf Jahren gemeinsam mit Koroljow arbeitete und trank, hatte er ein Recht darauf, diese vertraute Anrede zu benutzen.
    Mit finsterer Miene starrte Koroljow auf den beschädigten Ärmel. Er kleidete sich tatsächlich lieber in Zivil. Nichts war hinderlicher für einen offenen Kontakt zwischen Bürgern und Kriminalbeamten als eine braune Uniform, das war zumindest seine Meinung. »Das stimmt. Aber es war höchste Zeit, sie wieder mal herauszukramen. Schaut euch das an - die verdammten Motten sind darüber hergefallen.«
    »Und sie wirkt auch so eng. Hast wohl ein bisschen zugenommen, was?« Jasimows Augen funkelten.
    Koroljow lächelte. Er wusste, dass seine alte Säbelnarbe das linke Auge leicht zur Seite zog und ihm so ein verträumtes Aussehen verlieh, das noch betont wurde durch die buschigen Brauen. Jasimow mokierte sich oft darüber, dass Koroljows Augen ständig auf sein Essen fixiert waren. Koroljow musste zwar zugeben, dass ein Körnchen Wahrheit in dieser Feststellung lag, aber er war auch der Überzeugung, dass ihm dieser verträumte Blick das Vertrauen der Menschen sicherte, was bei seiner Arbeit durchaus nützlich war.
    »Das sind alles Muskeln, Dimitri. Ich trainiere fleißig. Da bleibe ich in Form und muss nicht befürchten, dass mich eine alte Dame niedersticht.«
    Semjonow prustete hinter einem hastig aufgeschlagenen Aktenordner, und Larinin vergaß seine Sorgen so weit, dass er lauthals lachte. Selbst Jasimows Lippen kräuselten sich, als er über die Stelle rieb, wo ihn eine ältere Frau mit der Spitze einer Schere getroffen hatte, als er ihr über die Straße helfen wollte. Es lag an der Uniform, wie sie ihnen später versicherte. Koroljow fand das keineswegs erstaunlich, denn Uniformen machten die Menschen nervös. Sie hatte schlicht angenommen, dass Jasimow sie verhaften wollte, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst war. Koroljow hatte sie sanft an den Armen gepackt, ehe sie Jasimow noch ein zweites Mal verletzen konnte. Selbst unbescholtene Bürger schraken dieser Tage beim leisesten Schatten zusammen, und sie hatte zufällig gerade eine Schere in der Hand gehabt, als der Uniformträger auftauchte. Umsonst bemühte sich Koroljow, nicht zu lachen; er schaffte es so selten, seinen Freund aufzuziehen, dass er sich die Hand vors Gesicht halten musste.
    Jasimow schüttelte tadelnd den Kopf. »Sehr witzig. Abgesehen davon folge ich inzwischen tatsächlich deinem Beispiel, Ljoschka. Nur noch Zivilkleidung nach diesem Erlebnis. Aber wenn du schon deine Weisheit an junge Tschekisten weitergibst, möchtest du uns vielleicht auch verraten, zu welchem Thema du deine pädagogischen Fähigkeiten unter
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher