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Russische Freunde

Russische Freunde

Titel: Russische Freunde
Autoren: Barbara Lutz
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«Petar Lischkow, kennst du ihn?», flüsterte ich Balthasar zu, und er nickte zur Antwort. Ich verabredete für später am Tag ein Treffen mit Lischkow.
    Balthasar sass mir gegenüber in einem Polstersessel und liess die Beine über die Armlehne baumeln. Mit einer theatralischen Kopfbewegung drehte er sich zu mir hin: «Ich mag Juri sehr gern, aber ich fürchte, ich weiss nicht allzu viel von ihm. Wir sind uns vor einigen Monaten begegnet. Ich glaube nicht, dass er in der Schweiz viele Freunde hat, er lebt ja auch noch nicht so lange hier. Studienkollegen vielleicht, aber er hat eher abschätzig über sie gesprochen. Ein paar Exilrussen vielleicht, so wie Petar, ihn habe ich einmal getroffen. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wo er sein könnte.»
    Die beiden Telefonnummern, die er von Juri hatte, kannte ich bereits, die Nummer des Festnetzes in seiner Wohnung und die Nummer des Mobiltelefons, das inzwischen mit leerem Akku bei mir zu Hause lag. Immerhin hatte Balthasar eine Mailadresse von Juri. Er versprach mir, Juri eine Mail zu schreiben und mich, falls er eine Antwort erhielt, sofort zu informieren.
    Petar Lischkow, meine letzte Hoffnung, etwas über den Verbleib von Juri zu erfahren, sass bereits wartend im Tramhäuschen, bei dem wir abgemacht hatten. Ich war noch nicht ganz aus dem Bus ausgestiegen, als er, flink trotz seiner Beleibtheit, aufsprang und auf mich zu rannte.
    «Ich bin Petarrr, ich bin Petarrr», rief er, umklammerte mit seinen Händen meinen Arm bis zum Ellenbogen und rammte ihn mir gegen den Magen. «Ich bin Petarrr», wiederholte er. Das hatte ich verstanden. Und vielleicht waren wir uns wirklich schon einmal bei Juri begegnet, wie es Petar jetzt behauptete. Jedenfalls schien er ein recht guter Freund von Juri zu sein, obschon sie sich erst in der Schweiz kennengelernt hatten. Sie trafen sich regelmässig, aus Lust auf ein normales Gespräch, wie Petar sagte. Er meinte damit, dass er sich mit Juri auf Russisch unterhalten konnte. Wo sich Juri im Moment aufhielt oder wie ich ihn erreichen konnte, wusste er auch nicht. Immerhin erfuhr ich, dass Juris Eltern vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Juri hatte mir das nie erzählt. Laut Petar hatte Juri keine näheren Verwandten mehr in Russland, niemand, an den wir uns wenden konnten.
    In der Dämmerung trottete ich nach Hause, zurück nach Bümpliz. Ich hatte getan, was ich konnte.

5
    Zwischen Zeitungen und Reklameschriften steckte eine Ansichtskarte, eine besonders hässliche, eine Gratiskarte, wie sie in Hotelzimmern aufliegen. Vor strahlend blauem Himmel war neben einer mageren Tanne ein überdimensioniertes rustikales Chalet abgebildet.
    «Ich brauche dich. Kannst du sofort kommen? Erkläre alles später», keine Unterschrift, ein Pfeil zeigte auf die rückseitig aufgedruckte Adresse der Pension Cordula in Leukerbad. Mir war sofort klar, dass die Karte von Juri stammte, ich war nur etwas erstaunt, weshalb er davon ausging, dass ich das wusste. Und dass ich ihm, ohne Fragen zu stellen, sofort nachreisen würde. Seit seinem Verschwinden waren nun fast zehn Tage vergangen. Aber dank dem neuem Lötschbergtunnel konnte ich in zwei bis drei Stunden bei ihm sein.
    Leukerbad war nebelverhangen, ein kalter Nieselregen fiel. Die Touristen liessen sich nicht abhalten und schlenderten in kleineren und grösseren Gruppen durch das Dorf. In durchsichtigen Regenhäuten und unter Schirmen betrachteten sie die Schaufensterauslagen, deren Angebot hauptsächlich aus Schweizer Messern, Wanderkleidung und Stöcken bestand. Badegäste eilten in Trainingsanzügen vom Hotel zu einem der Kurbäder und zurück.
    Die Pension Cordula lag am Dorfrand, eingeklemmt zwischen Sporthalle und Appartementhäusern. Offensichtlich hatte die schwächliche Tanne einer dieser Neubauten weichen müssen. Über eine kurze Treppe stieg ich zur Rezeption hoch, traf dort aber niemanden an. Ich hustete, rief ein leises Hallo. Das Büro hinter der Rezeption schien unbesetzt. Schräg hinter mir befand sich eine Holztür, deren eingelassenes Fenster mit einem gelblich verblichenen Vorhang verhängt war. Ein Emailschild «Privat» war an der Tür angebracht. Weiter hinten im Gang führten braun laminierte Türen in die Gästezimmer. Aus dem Restaurant im Erdgeschoss drangen Geräusche herauf. Ich war schon auf dem Weg nach unten, als die Tür mit dem Privat-Schild aufging und eine ältere Dame heraustrat. Sie sah mich überrascht und beinahe erschrocken an, und ich
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