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Runenschild

Titel: Runenschild
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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aber Gwinneth beruhigte sich nicht. Sie
zitterte im Gegenteil immer stärker und ihre heißen Tränen
schienen Lancelots Gesicht in Strömen zu benetzen. Sie
klammerte sich mit solcher Kraft an ihn, dass ihm die
Umarmung die Luft abschnürte, aber er spürte auch, dass
er ihr keinen Trost spenden konnte.
»Ich kann so nicht mehr leben, Lancelot«, schluchzte sie.
»Nicht auf diese kranke Art. Lieber kehre ich nach Camelot zurück und liefere mich Artus aus.«
»Bitte, Gwinneth«, flüsterte Lancelot. Er strich ihr beruhigend über das Haar, aber er hatte das Gefühl, dass sich
ihr Zittern dadurch eher noch verstärkte. Er kam sich so
hilflos vor, dass es wehtat.
»Es wird nicht so bleiben, glaub mir, und wenn ich noch
zwanzig von seinen Rittern erschlagen muss. Irgendwann
wird Artus die Jagd auf uns abblasen. Wir werden einen
Ort finden, an dem wir sicher sind. Wenn nicht in diesem
Land, dann in einem anderen, das verspreche ich dir.«
Aber glaubte er eigentlich selbst an diese Worte? Vielleicht war es nichts weiter als ein leichtfertiges Versprechen, das er ebenso wenig zu halten vermochte wie alles
andere, was er Gwinneth in Aussicht gestellt hatte. Sie
waren seit weit mehr als vier Monaten auf der Flucht und
jeder Tag war schlimmer als der vorhergehende gewesen.
Natürlich hatten sie gewusst, dass Artus weder seinen
scheinbaren Verrat noch Gwinneths schmähliches Verhalten klaglos hinnehmen konnte, und zumindest Lancelot
war sich von Anfang an bewusst gewesen, dass ihnen eine
erbarmungslose Jagd bevorstand, in der die Jäger nahezu
alle Vorteile auf ihrer Seite hatten.
Dennoch hatte er sich niemals, nicht einmal in seinen
schlimmsten Träumen vorgestellt, dass es so schlimm
werden konnte. Was sowohl Gwinneth als auch ihm trotz
allem ein wenig wie ein romantisches Abenteuer vorgekommen war – zwei Liebende, die auf der Flucht vor einem übermächtigen Feind waren und praktisch die ganze
Welt gegen sich hatten –, das war schon nach kurzem zu
einer Tortur und bald darauf zu einem Albtraum geworden, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Es war
nichts Abenteuerliches daran und schon gar nichts Romantisches. Sie lebten das Leben wilder Tiere, genau wie
Gwinneth es ihm in den letzten Wochen immer wieder
vorgehalten hatte. Eine ununterbrochene Flucht ohne jedes
konkrete Ziel, die nur aus Furcht, Entbehrungen, Misstrauen und Schmerz bestand und die ihnen beiden mehr
Kraft abverlangte, als sie auf Dauer aufbringen konnten.
Und aus Kämpfen. So vielen, so nutzlosen Kämpfen,
ganz gleich, wohin ihre absichtlich vollkommen willkürlich gewählte Route sie auch geführt haben mochte.
Er hatte Gwinneth nicht widersprochen, aber er wusste,
dass sie sich irrte. Bartholomäus war nicht der fünfte oder
sechste Ritter gewesen, den er erschlagen hatte, sondern
mittlerweile der achte. Und er war nicht so sicher, wie er
Gwinneth gegenüber behauptete, dass es wirklich jemals
aufhören würde. Artus schien von dem Gedanken an Rache geradezu besessen zu sein. Wahrscheinlich würde er
nicht eher Ruhe geben, bis Gwinneth und er entweder tot
oder gefangen waren – oder es keine Tafelrunde mehr gab.
Sehr behutsam löste er sich aus Gwinneths Umarmung
und schob sie weit genug von sich, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Was er erblickte, erschreckte ihn.
Gwinneth hatte aufgehört zu weinen; ihre Tränenspur
hatte die unerbittliche Kälte zu weißen Raureifspuren gefrieren lassen. Diese schreckliche Dunkelheit war noch
immer in ihren Augen, nicht mehr ganz so deutlich wie
zuvor, sondern eher wie ein schleichendes Gift, das im
Verborgenen lauert, ohne deshalb auch nur eine Spur weniger gefährlich zu sein. Er kannte sogar den Namen dieses Giftes: Er lautete Mutlosigkeit. Vielleicht der
schlimmste Feind eines Menschen in einer sowieso schon
ausweglos erscheinenden Lage.
Während er einen Zipfel seines Mantels benutzte, um die
gefrorenen Tränen von ihren Wangen zu wischen, versuchte er sich zu einem aufmunternden Lächeln zu zwingen.
»Wir werden einen Ausweg finden«, versprach er. »Artus ist mächtig, aber nicht allmächtig . Es gibt immer noch
ein paar Königreiche in diesem Land, die nicht mit ihm
verbündet sind. Vielleicht finden wir dort irgendwo Zuflucht.«
Gwinneth deutete ein Achselzucken an und tat wenigstens so, als ob ihr diese Worte ein wenig Zuversicht
spendeten; was in Wahrheit gar nicht der Fall sein konnte.
Mit Artus’ Macht war es sonderbar: Es gab selbstverständlich
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