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Runenschild

Titel: Runenschild
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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zuzuwenden. Er hätte ihren Blick in diesem
Moment nicht ertragen. »Ich möchte hier weg, so schnell
es geht.«
Gwinneth folgte wortlos seiner Aufforderung und es
dauerte nicht lange, bis sie zurückkam, ihren prachtvoll
aufgezäumten Schimmel und das kleinere, erschöpft wirkende Packpferd an den Zügeln hinter sich führend.
Ihr war diesmal nicht viel Zeit geblieben, sich zu verstecken. Lancelot hatte den Hinterhalt erst im allerletzten
Moment bemerkt, beinahe schon zu spät. Irgendwann würde er es erst merken, wenn es zu spät war, und dann …
Nein. Er schob diesen Gedanken mit Macht von sich. Er
wollte sich nicht vorstellen, was geschähe, wenn Gwinneth Artus’ Häschern in die Hände fiele. Er hatte ihr versprochen, sie eher zu töten, bevor er zuließe, dass sie nach
Camelot zurückgebracht würde. Sie wussten beide, dass er
dieses Versprechen nicht halten könnte, aber Lancelot
weigerte sich darüber nachzudenken, was für Konsequenzen sein Wortbruch nach sich ziehen würde.
Gwinneth wollte ihm helfen, doch Lancelot scheuchte
sie fast unwirsch zurück, während er Sir Bartholomäus’
Leichnam vom Weg herunterschleifte und anschließend
seinen Mantel über ihm ausbreitete, auf den er danach
noch eine Hand voll Schnee häufte. Wenn es nur möglich
gewesen wäre, hätte er ihm gerne ein würdigeres Begräbnis bereitet. Der hart wie Stein gefrorene Boden ließ das
jedoch nicht zu; außerdem mussten sie machen, dass sie
von hier wegkamen.
»Das ist Sir Bartholomäus, nicht wahr?«, fragte Gwinneth, noch immer mit ihrer fast tonlosen, schrecklich leeren Stimme.
»Ja«, bestätigte Lancelot.
»Der Wievielte war es?«, fuhr Gwinneth fort. »Der
Fünfte oder vielleicht schon der Sechste oder Siebte?« Sie
gab ein Geräusch von sich, das Lancelot im ersten Moment für ein Lachen hielt, obwohl es in Wahrheit eher so
etwas wie ein kleiner Schrei war. Er wandte sich zu
Gwinneth um und sah ihr nun doch ins Gesicht. Sie wirkte
auf geradezu unheimliche Weise gefasst.
»Und wie viele werden noch kommen?«, fuhr sie fort.
»Noch fünf, noch sechs oder fünfzig oder hundert? Wie
viele von Artus’ Rittern musst du noch erschlagen?«
Lancelot war alarmiert. War das der Moment, den er seit
Monaten fürchtete? Er wusste, wie stark Gwinneth war,
aber selbst ihre Stärke war nicht unerschöpflich.
»Gwinneth …«, begann er, »ich …«
»Und wer wird der Nächste sein?«, fuhr sie fort, als hätte
sie seine Worte gar nicht gehört. »Galahad? Leon? Parzival?«
»Bitte nicht, Gwinneth«, sagte Lancelot. »Sie werden
aufgeben. Artus weiß, dass mich keiner seiner Ritter besiegen kann. Er ist es seinem Ruf schuldig, nach uns suchen zu lassen, aber er wird nicht seine besten Männer
einen nach dem anderen in den sicheren Tod schicken.«
Gwinneth schwieg. Ihre Augen füllten sich mit einer Dunkelheit, die Lancelot bis ins Mark erschütterte.
Vielleicht nur weil er den Anblick dieser Schwärze nicht
mehr ertrug, wandte er sich ruckartig ab, ging zu den beiden toten Rittern hin und kniete noch einmal neben ihnen
nieder. Rasch, aber sehr methodisch begann er ihre Taschen zu durchsuchen und häufte alles, was er fand, neben
sich auf. Die Ausbeute war erbärmlich. Einige Münzen,
ein Ring mit einem Edelstein und ein goldenes, offenbar
schon sehr altes Kreuz, das einer der Männer um den Hals
getragen hatte. Es war sehr klein und das Gold war von
minderer Qualität.
»Was tust du da?«, fragte Gwinneth.
»Das siehst du doch«, antwortete Lancelot. Sein grober
Ton erschreckte ihn fast selbst, obwohl er sehr wohl wusste, dass er nur seinem schlechten Gewissen entsprang.
»Ich sehe nach, was sie an Wertsachen bei sich haben. Sie
brauchen sie nicht mehr, aber wir dafür umso nötiger.
Auch ein abtrünniger Ritter und eine flüchtende Königin
müssen essen, weißt du?« Er raffte seine magere Ausbeute
an sich, stopfte sie achtlos in die Tasche und stand auf.
»So weit ist es also jetzt schon mit uns gekommen«, sagte Gwinneth. »Gemeine Diebe und Leichenfledderer, das
sind wir geworden.«
Und plötzlich begann sie zu weinen; nicht leise und
schluchzend, wie sie es in den letzten Tagen und Wochen
so oft getan hatte, wenn sie glaubte, Lancelot merke es
nicht. Diesmal brachen die Tränen wie eine Explosion aus
ihr hervor, ein krampfhaftes Wimmern und Schluchzen,
fast wie ein Schrei, das sich wie ein glühendes Messer in
Lancelots Brust bohrte. Hastig schloss er sie in die Arme
und hielt sie fest,
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