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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos
Autoren: William Boyd
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Mutter kann sehr wütend werden, wenn sie will, und dieser Mann war ganz bestimmt sehr dumm«, sagte sie. »Deine Mutter ist eine zornige junge Frau.«
    »Na, vielen Dank auch, Sal«, sagte ich und beugte mich über sie, um ihr die Stirn zu küssen. »Ich ruf dich heute Abend an.«
    »Tust du mir einen kleinen Gefallen?«, sagte sie, und dann bat sie mich, es in Zukunft zweimal klingeln zu lassen, aufzulegen und neu zu wählen. »Dann weiß ich, dass du’s bist«, erklärte sie. »Mit dem Rollstuhl komm ich nicht so schnell durchs Haus.«
    Jetzt machte ich mir zum ersten Mal wirklich Sorgen. Waren das nicht schon Wahnvorstellungen oder Anzeichen geistiger Zerrüttung? Aber sie sah den Blick in meinen Augen.
    »Ich weiß, was du denkst, Ruth«, sagte sie. »Du liegst falsch, völlig falsch.« Sie erhob sich aus dem Rollstuhl und stand plötzlich hoch aufgereckt und starr da. »Warte einen Augenblick«, sagte sie und stieg die Treppe hinauf.
    »Hast du Granny wieder geärgert?«, fragte Jochen mit leisem Vorwurf.
    »Nein.«
    Meine Mutter kam die Treppe herunter – ohne Anstrengung, wie mir schien – und trug einen dicken gelbbraunen Schnellhefter unter dem Arm. Sie hielt ihn mir hin.
    »Ich möchte, dass du das liest«, sagte sie.
    Ich nahm ihr den Hefter ab. Er schien etliche Dutzend Seiten zu enthalten – verschiedene Papiersorten und Formate. Ich schlug ihn auf. Es gab eine Titelseite: DIE GESCHICHTE DER EVA DELEKTORSKAJA.
    »Eva Delektorskaja«, sagte ich verdutzt. »Wer ist das?«
    »Ich«, erwiderte sie. »Ich bin Eva Delektorskaja.«

Die Geschichte der Eva Delektorskaja
Paris 1939
    Zum ersten Mal hatte Eva Delektorskaja den Mann bei der Beerdigung ihres Bruders Kolja gesehen. Auf dem Friedhof stand er ein wenig abseits der Trauergemeinde. Er trug einen Hut – einen alten braunen Schlapphut, was ihr seltsam vorkam. Sie hielt sich an diesem Detail fest: Welche Sorte Mann würde mit einem braunen Schlapphut zur Beerdigung gehen? Was war das für eine Art von Pietät? Und sie hing dem Gedanken weiter nach, um das übermächtige Gefühl der Trauer halbwegs im Zaum zu halten, um nicht vollends die Fassung zu verlieren.
    Aber danach zu Hause, bevor die Trauergäste eintrafen, fing ihr Vater zu schluchzen an, und da konnte auch Eva die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ihr Vater hielt ein gerahmtes Foto von Kolja in den Händen, umklammerte es krampfhaft – wie ein rechteckiges Lenkrad. Eva legte ihm die Hand auf die Schulter, und mit der anderen wischte sie sich schnell die Tränen ab. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Irène, ihre Stiefmutter, kam mit einem klirrenden Tablett herein, darauf eine Karaffe Brandy und ein paar winzige Gläschen, nicht größer als Fingerhüte. Sie setzte es ab und ging in die Küche zurück, um einen Teller mit Zuckermandeln zu holen. Eva beugte sich über ihren Vater und bot ihm ein Glas an.
    »Papa«, sagte sie mit versagender Stimme, »nimm einen kleinen Schluck – hier, siehst du, ich trinke auch etwas.« Sie nippte an ihrem Brandy und spürte das Brennen auf den Lippen.
    Seine dicken Tränen fielen auf das Bild. Er blickte zu ihr auf, zog sie an sich und küsste sie auf die Stirn.
    »Er war erst vierundzwanzig … vierundzwanzig …«, flüsterte er, als wäre Koljas Alter etwas Unglaubliches, als hätte jemand zu ihm gesagt: Ihr Sohn hat sich in Luft aufgelöst, oder: Ihr Sohn hat Flügel bekommen und ist davongeflogen.
    Irène kam herüber, bog sanft seine Finger auseinander und nahm ihm behutsam das Bild weg.
    »Mange, Serge«, sagte sie, »bois – il faut boire.«
    Sie stellte das Bild auf dem Tischchen ab und begann die kleinen Gläser auf dem Tablett zu füllen. Eva hielt ihrem Vater den Teller mit den Zuckermandeln hin. Achtlos nahm er sich eine Handvoll und ließ ein paar zu Boden fallen. Sie schlürften ihren Brandy, knabberten Mandeln und tauschten Banalitäten aus: wie froh sie waren, dass der Tag trübe und windstill war, dass Sonnenschein unpassend gewesen wäre; wie schön es war, dass Monsieur Dieudonné die weite Reise von Neuilly gewagt hatte, und wie schäbig und geschmacklos, dass die Lussipows mit einem Trockenstrauß gekommen waren. Getrocknete Blumen! Allen Ernstes! Eva schaute immer wieder zum Bild von Kolja hinüber, der in seinem grauen Anzug lächelte, als würde er ihnen amüsiert zuhören, mit einem schelmischen Glitzern in den Augen, bis das Unfassbare des Verlusts, der Affront seiner Abwesenheit über ihr zusammenschlug wie eine Flutwelle
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