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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos
Autoren: William Boyd
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Kastanien, nur die Ulmen fehlten natürlich oder gingen gerade ein. Ich fand es merkwürdig, dass sie so angestrengt hinausblickte. Das passt nicht zu ihren üblichen Marotten und Eigenheiten, sagte ich mir. Ich legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.
    »Ist alles in Ordnung, altes Haus?«
    »Hmm. Es war nur ein Sturz. Ein Schock für den Organismus, wie es heißt. In ein, zwei Wochen bin ich wieder auf dem Posten.«
    »Sonst ist nichts? Du würdest es mir doch sagen, oder?«
    Sie wandte mir ihr hübsches Gesicht zu und bedachte mich mit dem offenherzigen Blick, den ich so gut kannte – große blassblaue Augen. Aber inzwischen, nach allem, was ich hinter mir hatte, konnte ich diesem Blick standhalten, ich ließ mich nicht mehr so leicht ins Bockshorn jagen.
    »Was soll denn sein, meine Liebe? Glaubst du, ich werde senil?«
    Ungeachtet dessen bat sie mich, sie im Rollstuhl durchs Dorf bis zur Post zu fahren, um unnötigerweise eine Flasche Milch und eine Zeitung zu kaufen. Mit Mrs Cumber, der Postfrau, redete sie ausführlich über ihren schlimmen Rücken, und auf der Rückfahrt ließ sie mich halten, um über den Steinwall hinweg mit dem jungen Bauunternehmer Percy Fleet und seiner langjährigen Freundin (Melinda? Melissa?) zu plaudern, während die ihren Gartengrill anheizten – eine Ziegelkonstruktion mit Schornstein, die sich stolz auf der Betonfläche vor dem neuen Wintergarten erhob. Sie bedauerten meine Mutter: Ein Sturz, das war wirklich das Schlimmste. Melinda führte das Beispiel ihres alten, von Schlaganfällen heimgesuchten Onkels an, der nach einem Sturz im Badezimmer wochenlang verwirrt gewesen war.
    »So was will ich auch, Percy«, sagte meine Mutter und zeigte auf den Wintergarten. »Sehr schön.«
    »Ein Voranschlag kostet nichts, Mrs Gilmartin.«
    »Wie hat es Ihrer Tante hier gefallen? Hat sie sich amüsiert?«
    »Meiner Schwiegermutter«, berichtigte Percy.
    »Ach ja, natürlich. Ihrer Schwiegermutter.«
    Wir verabschiedeten uns, und ich schob sie unwillig die holprige Straße entlang, während in mir Ärger darüber hochstieg, dass sie mich zur Mitwirkenden in dieser Theatervorstellung gemacht hatte. Überhaupt kommentierte sie ständig das Kommen und Gehen der Leute, als würde sie alle überwachen und jedes Mal die Stechuhr betätigen wie ein übereifriger Vorarbeiter, der seine Untergebenen schikaniert – das machte sie schon, solange ich denken konnte. Reg dich nicht auf, sagte ich mir. Nach dem Essen fahre ich mit Jochen zurück, er kann im Garten spielen, wir können in den Parks der Uni spazieren gehen …
    »Du darfst mir nicht böse sein, Ruth.« Sie blickte über die Schulter zu mir auf.
    Ich hörte auf zu schieben und zündete mir eine Zigarette an. »Ich bin dir nicht böse.«
    »0 doch, das bist du. Lass mich einfach sehen, wie ich zurechtkomme. Nächsten Samstag ist vielleicht alles wieder in Ordnung.«
    Als wir zurück waren, sagte Jochen mit Grabesstimme: »Vom Rauchen kann man Krebs kriegen.« Ich fuhr ihn an, und wir aßen unsere Mahlzeit in ziemlich angespannter Stimmung mit langen Schweigephasen, die meine Mutter ab und zu mit heiter-banalen Bemerkungen über das Dorf unterbrach. Sie überredete mich zu einem Glas Wein, und ich wurde etwas lockerer. Ich half ihr beim Abwasch und trocknete ab, während sie die Gläser im heißen Wasser spülte. Mutter-Tochter, Tochter-Mutter, sucht die Tochter in der Butter, reimte ich vor mich hin, plötzlich froh, dass Wochenende war, ohne Unterricht, ohne Studenten, und dachte mir, dass es vielleicht gar nicht so schlecht war, einmal ein wenig Zeit mit meinem Sohn zu verbringen. Da sagte meine Mutter etwas Merkwürdiges.
    Sie hielt wieder die Hand über die Augen und blickte zum Wald hinüber.
    »Was ist?«
    »Siehst du jemanden? Ist da jemand im Wald?«
    Ich schaute. »Niemand, den ich sehen würde. Warum?«
    »Mir war, ich hätte ich jemanden gesehen.«
    »Wanderer, Spaziergänger – heute ist Samstag, die Sonne scheint.«
    »Na klar: Die Sonne scheint, und die Welt ist in bester Ordnung.«
    Sie ging zur Anrichte, holte das Fernglas, das dort immer lag, und richtete es auf den Wald.
    Ich ignorierte ihren Sarkasmus, machte mich auf die Suche nach Jochen, damit wir losfahren konnten. Demonstrativ setzte sich meine Mutter in den Rollstuhl und fuhr zur Haustür. Jochen erzählte ihr vom Bierfahrer und meinem schamlosen Gebrauch von Schimpfwörtern. Meine Mutter nahm sein Gesicht in die Hände und lächelte ihn liebevoll an.
    »Deine
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