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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos
Autoren: William Boyd
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und sie wegschauen musste. Zum Glück klingelte es, und Irène stand auf, um die ersten Gäste zu empfangen. Eva blieb bei ihrem Vater sitzen, hörte, während Mäntel und Hüte abgelegt wurden, das gedämpfte Geräusch taktvoller Worte und sogar ein ersticktes Lachen als Anzeichen jener seltsamen Mischung aus Trauer und unbändiger Erleichterung, welche die Menschen nach einer Beerdigung zu befallen pflegt.
    Als Evas Vater das Lachen hörte, schaute er sie an, schniefte und zog die Schultern hoch, verzagt und hilflos wie ein Mann, dem selbst die einfachsten Antworten entfallen sind, und sie sah, wie alt er plötzlich geworden war.
    »Nur noch du und ich, Eva«, sagte er. Sie wusste, dass er an Marja dachte, seine erste Frau, seine Mascha, ihre Mutter – und an ihren Tod vor vielen Jahren am anderen Ende der Welt. Eva war vierzehn gewesen, Kolja zehn, und zu dritt hatten sie Hand in Hand auf dem Ausländerfriedhof von Tientsin gestanden, umweht von den Blütenblättern der riesigen weißen Glyzinie, die auf der Friedhofsmauer wuchs – wie von Schneeflocken, wie von dickem, weichem Konfetti. »Nur noch wir drei«, hatte er damals gesagt, als sie am Grab der Mutter standen und sich fest bei den Händen hielten.
    »Wer war der Mann mit dem braunen Schlapphut?«, fragte Eva. Er war ihr gerade wieder eingefallen, und sie wollte das Thema wechseln.
    »Ein Mann mit einem braunen Schlapphut?«, fragte ihr Vater.
    Da schoben sich die Lussipows schüchtern und vage lächelnd ins Zimmer, gefolgt von Evas molliger Cousine Tanja und ihrem neuen, sehr kleinen Mann, und ihre seltsame Frage nach dem Mann mit dem braunen Schlapphut war vergessen.
     
    Aber sie sah ihn wieder, drei Tage später, am Montag – ihrem ersten Arbeitstag nach der Beerdigung –, als sie mittags das Büro verließ, um essen zu gehen. Er stand unter der Markise der Épicerie auf der anderen Straßenseite, trug einen langen Tweedmantel – dunkelgrün – und seinen unpassenden Schlapphut. Er fing ihren Blick auf, nickte, lächelte, überquerte die Straße und nahm den Hut, um sie zu begrüßen.
    Er sprach ein hervorragendes, akzentfreies Französisch: »Mademoiselle Delektorskaja, mein aufrichtiges Beileid wegen Ihres Bruders. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie während der Beerdigung nicht ansprach, aber es kam mir nicht angemessen vor, zumal uns Kolja nie vorgestellt hat.«
    »Ich wusste nicht, dass Sie Kolja kannten.« Diese Tatsache warf sie schon aus der Bahn; in ihrem Kopf rumorte es, leichte Panik erfasste sie – etwas stimmte nicht.
    »Aber ja. Nicht direkt befreundet, aber gute Bekannte, könnte man sagen.« Er machte eine leichte Verbeugung und fuhr fort, diesmal in fehlerlosem Englisch: »Verzeihen Sie, mein Name ist Lucas Romer.«
    Der Akzent war Upperclass, aristokratisch, aber Eva dachte sofort, dass dieser Mr Lucas Romer überhaupt nicht aussah wie ein Engländer. Er hatte welliges schwarzes Haar, zurückgekämmt und vorn schon dünner werdend, und seine Gesichtsfarbe war geradezu – sie suchte nach dem treffenden Wort – schwärzlich, mit dichten Augenbrauen, die aussahen wie zwei horizontale Striche zwischen der hohen Stirn und den Augen, die von einem schlammigen Blaugrau waren (sie achtete immer auf die Augenfarbe der Leute). Sein Kinn wirkte metallisch hart und zeigte, obwohl frisch rasiert, einen Anflug von Bart.
    Er spürte, dass sie ihn musterte, und strich unwillkürlich über sein dünnes Haar. »Hat Kolja nie mit Ihnen über mich gesprochen?«, fragte er.
    »Nein«, antwortete Eva, nun ebenfalls auf Englisch. »Nein, einen Lucas Romer hat er mir gegenüber nie erwähnt.«
    Aus irgendwelchen Gründen lächelte er über ihre Feststellung und zeigte seine sehr weißen, ebenmäßigen Zähne.
    »Sehr gut«, sagte er nachdenklich und nickte, um seine Zufriedenheit zu zeigen, dann fügte er hinzu: »Das ist übrigens mein wirklicher Name.«
    »Etwas anderes hätte ich auch nicht vermutet«, sagte Eva und reichte ihm die Hand. »Es war mir ein Vergnügen, Mr Romer. Wenn Sie mich entschuldigen wollen. Ich habe nur eine halbe Stunde Zeit für meinen Lunch.«
    »Nein. Sie haben zwei Stunden Zeit. Ich habe Monsieur Frellon gesagt, dass ich Sie in ein Restaurant führe.«
    Monsieur Frellon war ihr pünktlichkeitsbesessener Chef.
    »Warum sollte Monsieur Frellon das erlauben?«
    »Weil er glaubt, dass ich vier Dampfschiffe bei ihm chartern werde, und da ich kein Wort Französisch spreche, muss ich die Details mit seiner Dolmetscherin
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