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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos
Autoren: William Boyd
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Mummy?«
    »Natürlich. Warum fragst du?«
    »Ich weiß nicht … Sie ist so seltsam.«
    »Jeder ist seltsam, bei Lichte besehen«, sagte ich. »Ich bin seltsam, du bist seltsam …«
    »Das stimmt«, sagte er. »Ich weiß.« Er legte den Kopf auf meine Schulter, bearbeitete den Nackenmuskel über meinem rechten Schlüsselbein mit seinem spitzen kleinen Kinn, und mir kamen sofort die Tränen. Ab und zu machte er so etwas mit mir, Jochen, mein seltsamer Sohn – und brachte mich damit fast zum Heulen, aus Gründen, die ich mir selber nicht richtig erklären konnte.
     
    Am Dorfeingang, gegenüber dem Peace and Plenty, hielt ein Brauereifahrzeug und lieferte Bier. Es blieb nur eine schmale Lücke, durch die ich mich quetschen musste.
    »Hippo kriegt Schrammen«, warnte mich Jochen. Mein Auto war ein Renault 5 aus siebter Hand, himmelblau mit karminroter (weil ausgetauschter) Motorhaube. Jochen hatte ihn taufen wollen, und ich schlug Hippolyte vor, weil ein französisches Auto meiner Meinung nach einen französischen Namen brauchte (aus irgendeinem Grund hatte ich gerade Taine gelesen), und so wurde Hippo daraus – zumindest für Jochen. Ich persönlich kann Leute nicht ausstehen, die ihren Autos Namen geben.
    »Nein«, sagte ich. »Ich passe schon auf.«
    Ich hatte mich beinahe durchmanövriert, Zentimeter um Zentimeter, als der Bierfahrer aus dem Pub kam, sich in den Weg stellte und mich mit theatralischem Gefuchtel vorwärts dirigierte – ein ziemlich junger Kerl noch. Sein dicker Bauch zerdehnte das Morrell-Logo auf seinem Sweatshirt, und seine rot glänzende Biervisage wurde von breiten Koteletten eingerahmt, die einem viktorianischen Dragoner alle Ehre gemacht hätten.
    »Weiter, weiter, ja, gut so, du kriegst es hin, Schätzchen.« Genervt winkte er mich durch und knurrte abschätzig: »Ist ja wohl kein Sherman-Panzer.«
    Als ich neben ihm war, kurbelte ich lächelnd die Scheibe herunter und sagte: »Wenn Sie Ihre Wampe einziehen würden, wäre es ein ganzes Stück leichter, Sie dummes Arschloch.«
    Ich gab Gas, bevor er wusste, wie ihm geschah, und beim Hochkurbeln des Fensters spürte ich, dass meine Wut verflog, so schnell, wie sie gekommen war – ein köstlich kribbelndes Gefühl. Ich war nicht gerade in Hochstimmung, wohl wahr, weil ich mir an dem Morgen bei dem Versuch, ein Poster im Arbeitszimmer aufzuhängen, mit slapstickartiger Zwangsläufigkeit und Ungeschicklichkeit mit dem Hammer auf den Daumen – der einen Wandhaken festhielt – geschlagen hatte. Charlie Chaplin wäre stolz auf mich gewesen, so wie ich jaulte und hüpfte und mit der Hand wedelte, als wollte ich sie abschütteln. Mein Daumennagel unter dem hautfarbenen Pflaster war nun pflaumenblau, und ein kleines Schmerzzentrum in meinem Daumen pulsierte wie eine organische Uhr, die die Sekunden bis zu meinem Ableben zählt. Aber während ich davonfuhr, spürte ich den adrenalinbefeuerten Herzschlag, den Freudentaumel über meine Dreistigkeit; in Momenten wie diesen war aller Ärger in mir begraben – in mir und unserer ganzen Spezies.
    »Mummy, du hast ein schlimmes Wort benutzt«, sagte Jochen sanft, aber unnachsichtig.
    »Tut mir leid, der Mann hat mich echt aufgeregt.«
    »Er wollte doch nur helfen.«
    »Nein, er wollte mich bevormunden.«
    Jochen saß da und kaute eine Weile an dem neuen Wort, dann gab er auf.
    »Endlich sind wir da«, sagte er aufatmend.
    Das Cottage meiner Mutter stand inmitten dichter, üppiger Vegetation und wurde von einer unbeschnittenen, ausufernden Buchsbaumhecke umgeben, die von Kletterrosen und Klematis durchwuchert war. Der büschelige und handgeschnittene Rasen war von einem geradezu unanständigen Sattgrün, das der gnadenlosen Sonne hohnsprach. Aus der Luft, dachte ich, mussten Cottage und Garten aussehen wie eine grüne, wild wuchernde Oase – wie eine Aufforderung an die Behörden, sofort ein Rasensprengverbot zu erlassen. Meine Mutter war eine passionierte, aber eigensinnige Gärtnerin: sie pflanzte eng und schnitt kurz. Wenn ein Busch gut gedieh, ließ sie ihn gewähren und scherte sich nicht darum, ob er andere Pflanzen erstickte oder zu viel Schatten erzeugte. Ihr Garten, verkündete sie, sollte eine kontrollierte Wildnis sein – da sie nicht einmal einen Rasenmäher hatte, schnitt sie das Gras mit der Gartenschere –, und sie wusste, dass sich andere im Dorf darüber ärgerten, weil hier schmucke und ordentliche Gärten als wichtigste Vorzeigetugend galten. Aber niemand konnte sich beschweren,
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