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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos
Autoren: William Boyd
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kannte – im Krieg.«
    »Gehen wir da rein?«
    »Nein«, sagte meine Mutter. »Ich wollte nur sehen, wer kommt.«
    »War das ein netter Mann?«, fragte Jochen.
    »Warum fragst du das?«, wollte meine Mutter nun wissen und wandte sich ihm zu.
    »Weil du nicht sehr traurig aussiehst.«
    Meine Mutter dachte nach. »Am Anfang, als ich ihn kennenlernte, fand ich ihn nett. Sehr nett. Dann merkte ich, dass ich mich geirrt hatte.«
    Jochen fragte nicht weiter.
    Wie meine Mutter vorausgesagt hatte, erlebte Romer den Morgen nach unserem Besuch nicht mehr. Noch in der Nacht starb er – nach Auskunft der Zeitungen – an einem »schweren Herzanfall«. Die Nachrufe erschienen an prominenter Stelle, blieben jedoch recht vage, und in Ermangelung brauchbarer Fotos wurde häufig dasselbe Porträt abgedruckt – das von David Bomberg, wie ich vermute. Über Lucas Romers Tätigkeit während des Krieges hieß es summarisch, er habe »für die Geheimdienste gearbeitet und später eine Führungsposition beim GCHQ bekleidet«. Ungleich mehr Worte wurden auf seine Verlegerkarriere verwendet. Fast schien es, als würde eine große Figur des literarischen Lebens zu Grabe getragen und kein Spion. Meine Mutter und ich, wir schauten uns die Gäste an, während die Schlange vor der Kirche länger wurde: Ich glaubte, einen Zeitungsverleger zu erkennen, den man häufig im Fernsehen erlebte, ich sah den einen oder anderen Exminister irgendeiner Vorgängerregierung, einen Romancier, der vor allem für seine Rechtslastigkeit berühmt war, und viele grauhaarige ältere Herren in perfekten Maßanzügen und mit Krawatten, die diskret auf ihre alten Verbindungen verwiesen – Regimenter, Clubs, Universitäten, akademische Gesellschaften –, auf solche jedenfalls, die sie mit Stolz zur Schau tragen konnten. Meine Mutter glaubte eine Schauspielerin zu erkennen. »Ist das nicht Vivian Leigh?«
    »Die ist doch lange tot, Sal.«
    Jochen zupfte mich sanft am Ärmel. »Mummy, langsam kriege ich ein bisschen Hunger.« Dann fügte er diplomatisch hinzu: »Du nicht auch?«
    Meine Mutter beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Gleich werden wir alle drei sehr schön essen gehen«, sagte sie. »In einem wunderschönen Hotel nur ein kleines Stückchen weiter. Im Ritz.«
    Wir saßen an einem Tisch in der Ecke des schönen Speisesaals mit einem herrlichen Blick auf den Green Park, wo sich die Platanen schon gelb färbten und vorzeitig vor dem glutheißen Sommer kapitulierten – der Herbst würde früh einsetzen in diesem Jahr. Meine Mutter lud uns ein, wie sie vor dem Essen verkündet hatte, wir sollten an diesem denkwürdigen Tag nur das Allerbeste bekommen. Sie bestellte einen Jahrgangs-Champagner, und als eingeschenkt war, stießen wir miteinander an. Jochen durfte an ihrem Glas nippen.
    »Schmeckt ziemlich angenehm«, sagte er. Der Junge benahm sich sehr gut, höflich und zurückhaltend, als würde er etwas von der komplizierten und geheimen Vorgeschichte dieses London-Ausflugs ahnen.
    Ich erhob das Glas auf meine Mutter.
    »Nun, du hast es geschafft, Eva Delektorskaja«, sagte ich.
    »Was geschafft?«
    »Du hast gewonnen.« Plötzlich packte mich eine absurde Rührung, als müsste ich gleich heulen. »Letzten Endes.«
    Sie zog die Stirn kraus, als wäre ihr der Gedanke nie gekommen.
    »Ja«, sagte sie. »Letzten Endes. Könnte man sagen.«
     
    Drei Wochen später saßen wir im Garten ihres Cottage. Es war ein warmer, sonniger, aber erträglicher Samstagnachmittag; die endlose Hitze des Sommers war vorüber – sie war zur Erinnerung geworden –, jetzt freuten wir uns über ein bisschen frühherbstlichen Sonnenschein und die wohltuende Wärme. Vereinzelte Wolken trieben flink dahin, ein auffrischender Wind zauste die Bäume jenseits der Wiese. Ich konnte sehen, wie er an den uralten Eichen und Buchen von Witch Wood rüttelte, und das Rascheln und Rau schen der welkenden Blätter klang bis zu uns herüber, quer über die ungemähte, trockene Wiese, während die unsichtbaren Böen in das dichte Gehölz fuhren, die dicken Äste in heftige Bewegung versetzten, so dass die riesigen Bäume wankten, um sich stießen, durch die spielerische Kraft des Windes gleichsam zum Leben erweckt wurden.
    Ich schaute meiner Mutter zu, die ernst und konzentriert in einem Manuskript las, das ich ihr mitgebracht hatte. Denn ich kam von einem Gespräch mit Timothy »Rodrigo« Thorns im All Souls, wo er mir eine maschinengeschriebene Analyse meiner
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