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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos
Autoren: William Boyd
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und stand auf – offensichtlich empört. Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar und ging ins Haus. Ich lief ihr nicht nach – sicher brauchte sie ein wenig Zeit, um die Analyse zu verarbeiten, zu sehen, ob sich alles zu einem stimmigen Bild zusammenfügte.
    Ich griff nach den Seiten, klopfte sie auf den Knien zurecht und dachte absichtlich an andere Dinge – etwa an die spannenden Neuigkeiten, die am Morgen mit der Post gekommen waren: eine Einladung zur Hochzeit von Hugues Corbillard und Bérangère Wu in Neuilly bei Paris und wieder ein Brief von Hamid, abgeschickt in der Stadt Makassar auf der Insel Celebes, mit der Nachricht, dass sein Gehalt auf 65000 Dollar gestiegen sei und er hoffe, noch vor Jahresende einen Monat Urlaub zu bekommen, um nach Oxford zu fliegen und mich und Jochen zu besuchen. Hamid schrieb mir regelmäßig jede Woche; er hatte mir meinen Ausrutscher im Captain Bligh verziehen, ohne dass ich ihn darum bitten musste oder bevor ich es tun konnte. Ich bin eine sehr schlechte Briefschreiberin – und habe ihm nur zweimal kurz geantwortet, glaube ich –, aber ich hatte das Gefühl, dass Hamid sein hartnäckiges Werben auch ohne mein Zutun noch lange fortsetzen würde.
    Meine Mutter kam zurück, ein Päckchen Zigaretten in der Hand. Sie schien wieder beruhigt, als sie sich setzte, und bot mir eine an (die ich ablehnte, denn wegen Jochens ständiger Nörgelei wollte ich aufhören).
    Sie zündete ihre Zigarette an, und ich schaute ihr zu.
    »Kannst du was damit anfangen?«, fragte ich behutsam.
    Sie zuckte die Schultern. »Wie hat er sich ausgedrückt? ›Die Kleinarbeit der BSC …‹ Ich vermute, er hat recht. Hätte de Baca mich umgebracht, wäre es nicht anders gekommen. Pearl Harbor stand kurz bevor, auch wenn das damals keiner geahnt hat.« Sie lachte kurz auf, aber nicht, weil sie das lustig fand. »Morris sagte immer, wir sind wie Bergarbeiter, die tief im Untergrund Kohle fördern, ohne zu wissen, was die Bergwerksindustrie da oben treibt. Pick-pick-pick – hier, ein Stückchen Kohle.«
    Ich dachte eine Weile nach, dann sagte ich: »Roosevelt hat diese Rede nie gehalten, in der er deine mexikanische Karte als Beweis anführen wollte, stimmt’s? Das wäre toll gewesen. Hätte vielleicht alles geändert.«
    »Du bist sehr nett, Liebling«, sagte meine Mutter. Ich merkte schon, dass ich sie heute nicht aufmuntern konnte, egal, was ich anstellte. Sie wirkte wie von einer resignierten Müdigkeit befallen – zu viele unselige Erinnerungen schwirrten ihr durch den Kopf. »Roosevelt sollte die Rede am 10. Dezember halten«, sagte sie. »Aber dann kam Pearl Harbor dazwischen, und er brauchte die mexikanische Karte nicht mehr.«
    »Thoms behauptet also, dass Romer ein russischer Spion war – wie Philby, Burgess, Maclean. Ich nehme an, dass sich Romer deshalb umgebracht hat. Zu alt, um noch zu fliehen, wie sie es taten.«
    »Das ist auch viel plausibler«, sagte sie. »Ich konnte nie verstehen, wieso Morris ihn für einen Agenten der deutschen Abwehr hielt.« Sie zeigte ein leeres Lächeln. »Trotzdem ist es gut zu wissen, wie unbedeutend und kleinkariert das alles war, wenn es ums ›große Ganze‹ geht«, fügte sie mit wehmütiger Ironie hinzu. »Ich muss schon sagen.«
    »Es war nicht unbedeutend und kleinkariert, was du getan hast«, sagte ich und legte die Hand auf ihren Arm. »Alles hängt davon ab, wie man die Dinge betrachtet. Du bist mit de Baca in die Wüste gefahren – und niemand sonst.«
    Sie sah plötzlich müde aus. Sie erwiderte nichts und drückte ihre halb gerauchte Zigarette aus.
    »Geht’s dir nicht gut, Sal?«, fragte ich.
    »Ich kann nicht richtig schlafen«, sagte sie. »Hat dich jemand kontaktiert? Gibt es etwas Verdächtiges?«
    »Ich steige sofort ins Auto und fahre nach Hause, wenn du wieder davon anfängst. Mach dich nicht lächerlich. Es ist vorbei.«
    Sie hörte mir nicht zu. »Siehst du, das war der Fehler. Mein Fehler. Und das beschäftigt mich. Du hättest dich unter einem anderen Namen bei ihm melden müssen.«
    »Das hätte nicht funktioniert. Er hätte das recherchiert. Ich musste ihm ehrlich sagen, wer ich war. Darüber haben wir hundertmal gesprochen. Bitte!«
    Wir saßen da und schwiegen.
    »Wo ist Jochen?«, fragte ich.
    »Drinnen. Er malt.«
    »Wir sollten langsam los.« Ich stand auf. »Ich sammel mal seinen Kram ein.« Ich faltete Rodrigos Manuskript zusammen und dachte nach.
    »Nur eins verstehe ich daran nicht«, sagte ich. »Warum ist Romer
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