Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
Vom Netzwerk:
dass das alles zunächst keinen Sinn ergab. Ich starrte einige Zeit auf die Seite, ehe es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Wenigstens verstand ich nun, warum Ada meinen Brief nicht beantwortet hatte.
     
    ∗∗∗
     
    Die Geräusche des Hafens drangen zu mir, als ich am oberen Ende der Church Lane stand: die Rufe der Männer, das Klatschen von Segeltuch, das Rattern von Rädern, und über alldem das unablässige Schreien der Möwen, durchdringend, trostlos. Hinter dem Pier sah ich das ruhige, metallgraue Meer. Die salzige Luft roch nach Teer, Fisch, Kohle und Verfall, wie er Moder und Tang eigen ist. Steinstufen führten den Hügel hinauf Richtung St Mary’s Church und zu der Ruine der Klosterkirche von Whitby.
    Niemand wusste, wo ich war. Ich hatte meinem Onkel eine Nachricht hinterlassen, dass ich den Tag über fort sei und erst sehr spät wiederkäme, und hatte mich aus dem Haus geschlichen, ehe er zum Frühstück kam. Während der Zugfahrt warich immer wieder eingedöst, mit Fetzen von Albträumen von Wraxford Hall. Wenn ich wach war, ermahnte ich mich selbst, nichts von dem Besuch zu erwarten.
    St Michael’s Close war eine Sackgasse, die von der Church Lane abging und mit der Nummer sieben endete, einem hohen, schmalen, weißgetünchten Häuschen, mit einigen Stufen, die von der Straße zur Eingangstür hinabführten. Die Ermahnung meiner selbst erwies sich als vergeblich. Ich hatte einen trockenen Mund; mein Herz schlug schmerzhaft. Ich stieg die Stufen hinab, griff nach dem schweren Metallring und klingelte zweimal.
    Die Tür wurde von einer ausgezehrten Frau mittleren Alters geöffnet, die in ihrer Jugend einmal eindrucksvoll schön gewesen sein mochte. Ihr braunes Haar war von weißen Strähnen durchzogen, ihre Haut so von Falten durchfurcht, dass sie einer zwanzig Jahre älteren Frau hätte gehören können, und sie hatte tiefschwarze Schatten unter den Augen. Die Augen selbst aber waren groß und von erstaunlicher Leuchtkraft in diesem gezeichneten Gesicht.
    «Könnte ich Mrs   Woodward sprechen?», sagte ich, zitternd vor Aufregung.
    «Darf ich fragen, wer Sie sind?» Ihre Stimme klang harsch, doch nicht unangenehm, ein wenig klang der hiesige Dialekt durch.
    «Mein Name ist Miss Langton», sagte ich.
    «Warten Sie hier», sagte sie und schloss die Tür. Mir war plötzlich, als spürte ich Schmetterlinge im Bauch. Ich wartete bebend, wie mir schien, ein Jahrhundert, ehe sich die Tür wieder öffnete.
    «Mrs   Woodward ist nicht zu Hause.»
    «Bitte», sagte ich. «Ich bin extra von London hierhergekommen, um sie zu sprechen – um ihr das hier zu geben.» Ich zog Nells Tagebuch hinter meinem Rücken hervor, aber der Blick der Haushälterin wich nicht einen Moment von meinem Gesicht.
    «Dann werde ich es ihr geben, wenn sie zurückkommt.» Sie streckte die Hand aus.
    «Tut mir leid», sagte ich. «Ich muss es persönlich abgeben. Bitte. Ich kann auf der Straße warten, wenn sie nur herauskommt, um mit mir zu sprechen.»
    «Sie ist nicht zu Hause», wiederholte die Haushälterin. Während sie sprach, erschien eine junge Frau hinter ihr im Korridor. Für einen Moment sah ich rotbraunes Haar, dunkle Augen und einen aufmerksamen, neugierigen Blick, ehe sich die Tür wieder schloss.
    An der obersten Stufe war eine kleine Steinmauer. Auf die setzte ich mich, fest entschlossen, mich nicht einfach wegschicken zu lassen. Kurz darauf sah ich aus den Augenwinkeln, wie sich ein Vorhang hinter einem der oberen Fenster bewegte.
    Etwa eine Viertelstunde später wurde die Tür wieder geöffnet, und eine andere Frau erschien, von gleicher Größe wie die Haushälterin, aber mit dunklerem, grau durchsetztem Haar, das im Licht changierte. Sie hatte hohe Wangenknochen und eine kräftige Kieferpartie. Obgleich ihr Gesicht weniger gezeichnet war, waren auch ihre Augen, die sie mit deutlicher Missbilligung auf mich richtete, von tiefen Falten umgeben.
    «Miss Langton?», fragte sie streng. «Ich bin Mrs   Woodward. Was wollen Sie von mir?»
    «Ich habe Ihnen vor einigen Wochen aus London geschrieben. Haben Sie meinen Brief erhalten?»
    «Nein. Bitte, teilen Sie mir Ihr Anliegen mit.»
    «Ich habe Wraxford Hall geerbt», sagte ich. «Von Augusta Wraxford – ich bin eine Nachfahrin auf der Lovell-Seite. John Montague gab mir Eleanor Wraxfords Tagebücher   –»
    «Und was hat das mit mir zu tun?»
    «Bitte, glauben Sie mir», sagte ich verzweifelt. «Ich will weder Ihnen noch Nell etwas zuleide tun – wollen Sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher