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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
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mir in Erinnerung, wie viel Böses Magnus getan hatte, und wartete, bis er sich beruhigt hatte.
    «Verzeihen Sie, Miss Langton. Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Tag erleben würde   … Ich bin mir sicher, dass der Herr nicht gewollt hätte, dass ich Sie enttäusche. Wenn Sie sich so weit erholt haben, wollen Sie mit mir kommen? – Hier entlang.»
    Er führte mich die Steinstufen hinauf, unsere Schritte hallten in der Stille wider. Wir betraten ein langes getäfeltes Zimmer, das deutlich heller war als das untere. In meiner Naivität hatte ich erwartet, dass Gemälde die Wände bis zur Decke füllen würden. Aber es gab nur eine einzige Reihe von Bildern, die einmal den Raum umspannte, und offensichtlich war viel Sorgfalt auf ihre Platzierung verwendet worden. Ich ging los, einmal im Kreis durch das Zimmer, mit Mr   Brotherton an meinem Ellenbogen und sich überstürzenden Gedanken. Um etwas zu verbergen, hätte er es sicherlich im Arbeitszimmer untergebracht. Aber unter welchem Vorwand könnte ich das zu sehen bekommen, ganz zu schweigen davon, dort allein zu sein? Wenn ich eine Ohnmacht vortäuschte, würde er mich allein zurücklassen, um einen Arzt zu holen? Nein, er würde sicherlich ein Dienstmädchen rufen. Aber ich könnte fragen, ob ich mich einen Moment hinlegen dürfe. Und gab es andere Hausangestellte? Es schien totenstill.
    Die Klingelschnur – das war mir im Vorbeigehen aufgefallen – hing gleich neben der Tür, durch die wir hereingekommen waren. Wir waren beinahe am anderen Ende der Galerie angekommen, und ich bereitete mich gerade seelisch und moralisch darauf vor, vor Mr   Brotherton zusammenzubrechen, als wir zu dem Bild eines großen Herrenhauses im Mondschein kamen. Ich hatte mich mechanisch von einem Gemälde zum nächsten bewegt und kaum wahrgenommen, was auf ihnen zusehen war, aber nun begriff ich schlagartig: Ich sah ein Bild von Wraxford Hall.
    Der Mond stand über dem dunklen Koloss des Hauses, versilberte den Dachschiefer und ergoss sein Licht über den unebenen Weg wie Wasser. Zweige drohten in verschwenderischer Fülle das Haus zu überwältigen, Schornsteine mit gekrümmten Aufsätzen und die ihnen beigefügten Blitzableiter hoben sich stark gegen den leuchtenden Himmel ab. Aber der Blick wurde vor allem von einem hypnotisierenden orangefarbenen Glimmen in den Fenstern im ersten Stock angezogen. Der Schein, durchbrochen von einem filigranen Kreuzmuster, war in den beiden angrenzenden Bleiglasfenstern schwächer, in den nächsten noch schwächer, und jenseits von diesen spiegelte sich nur noch das Mondlicht in den Scheiben. Das Bild trug keinen Titel, aber es war in der unteren rechten Ecke signiert: J.   A.   Montague, 1866.
    «Seit – seit wann hängt das hier, wissen Sie das?»
    «Erst seit ein paar Wochen, Miss Langton. Doktor Davenant wechselte die Bilder immer wieder aus.»
    «Sie meinen, er hat es erst kürzlich gekauft?»
    «Ich nehme es an, Miss Langton. Er hat nichts darüber gesagt. Aber er hat mich nach meiner Meinung gefragt, eines Morgens, als ich hier abstaubte. Eher unheimlich, sagte ich. Das schien ihn zu amüsieren.»
    «Und sagte er   … Wissen Sie, was das für ein Haus ist?»
    «Nein, Miss Langton.»
    «Es ist mein Haus, Wraxford Hall. Mr   John Montague, der Maler dieses Bildes, starb vor zwei Monaten   … Hat Doktor Davenant je von ihm gesprochen?»
    «Nein, Miss Langton, nicht mit mir.»
    «Oder von Magnus Wraxford?»
    «Nein, Miss   … Sie meinen nicht den Mann, der ermordet wurde?»
    «So heißt es immer.»
    Der alte Mann schwieg einen Moment, blickte das Bild mit Unbehagen an, dann mich.
    «Wenn Sie mich entschuldigen, Miss Langton. Es ist noch viel zu tun, und ich sollte mich jetzt wieder meinen Aufgaben widmen.»
    «Natürlich», sagte ich. «Es war sehr freundlich von Ihnen, mir die Bilder zu zeigen.»
    Es schlug zwei, als ich voller Erleichterung hinter ihm die Treppe hinunterstieg. Ich bin frei, dachte ich. Ich kann geradewegs zum Regent’s Park zu Edwin gehen; der Schatten ist verflogen.
    «Was werden Sie jetzt tun?», fragte ich und hatte Ada Woodwards Frage im Ohr.
    «Danke, Miss Langton, für mich ist gut gesorgt. Mr   Pritchard teilte mir das freundlicherweise mit.»
    «Es freut mich, das zu hören», sagte ich und dachte, wie eigenartig es doch war, dass ein so abscheulicher Mann seinem Diener gegenüber großzügig sein konnte. Durchs Fenster blickte ich zurück, als die Kutsche losratterte, und sah Mr   Brotherton immer
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