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Ruf der verlorenen Seelen

Ruf der verlorenen Seelen

Titel: Ruf der verlorenen Seelen
Autoren: Derting Kimberly
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flüsterte sie, »da ist keiner.«
    Doch sie wusste, dass die Worte davon nicht wahr wurden.
    Wieder kamen ihr die Tränen. Und obwohl der Traum
ihr sagte, dass ein Mensch in dem Container war – ein toter
Mensch –, wusste sie, dass sie noch einmal dorthin musste, um
ganz sicher zu gehen.
    Als Violet sich aus dem Haus schlich, hatte der Himmel die
Farbe von poliertem Ebenholz. Sie schrieb nur einen kurzen,
ungenauen Zettel, damit ihre Eltern keinen Schreck bekamen,
falls sie aufstanden und merkten, dass sie weg war.
    Sie hielt den Atem an und lauschte dem Knirschen von Kies
unter den Reifen, als sie den Wagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern
aus der Ausfahrt fuhr. Sie fasste nach ihrem Handy und
schaltete die Scheinwerfer ein. Ein unnatürlicher Lichtschein
durchdrang den Nebel, der sich über die verlassenen Sträßchen
rund um ihr Haus gesenkt hatte.
    Es war frisch, und da Violet, um ihre Eltern nicht zu wecken,
den Motor nicht hatte warmlaufen lassen, war es kalt im
Wageninnern. Auf der Fahrt in Richtung Highway konnte sie
ihren Atem sehen.
    Es war noch früh – oder schon spät, je nachdem, wie man
es betrachtete –, und die Straßen waren verlassen. Violet kam
sich vor wie in einem postapokalyptischen Film, mit ihr als
einzige Überlebende in einer Geisterstadt. Die Illusion wurde
zerstört, als ihr auf dem schmalen Highway ein Auto entgegenkam.
Sie überlegte kurz, ob derjenige auf dem Heimweg
war oder, so wie sie, von zu Hause wegfuhr.
    Sie war müde nach der kurzen Nacht. Oder eher erschöpft.
Die Dunkelheit hatte eine einschläfernde Wirkung, dazu das
leise Schaukeln des Wagens, der über den Asphalt glitt. An
einer kleinen Drive-in-Espressobar, die rund um die Uhr geöffnet
hatte, hielt sie an und bestellte einen Milchkaffee mit Vanille.
Für die lange Fahrt nach Seattle brauchte sie eine Dosis
Koffein.
    Als sie schon fast in der Stadt war und der Morgen graute,
verwandelte sich das Ebenholz des Himmels in satte, rauchige Holzkohle. Immer mehr Autos schoben sich auf die Straßen, Violet war nicht mehr allein.
    Das hieß jedoch nicht, dass sie keine Angst mehr gehabt
hätte. Sie hatte Panik davor, noch einmal die Werft zu betreten,
wieder vor dem Container zu stehen, jetzt, da sie wusste,
was darin war. Und sie hatte keine Ahnung, was sie dann machen
sollte.
    Aber sie konnte es nicht einfach ignorieren. Das Echo würde
ihr keine Ruhe lassen.
    Sie stellte den Wagen an dem hohen Maschendrahtzaun ab,
der die Werft umgab. Sie sah es sofort: Heute Morgen stand
das Tor nicht offen.
    Violet stieg aus. Weiße Atemwölkchen kamen aus ihrem
Mund, während sie den Reißverschluss ihrer Jacke zuzog und
die Hände tief in den Taschen vergrub. Es war immer noch dunkel,
zu dunkel, und Violet schaute sich prüfend um.
    Gestern waren hier ein paar Leute herumgelaufen, heute
konnte man keine Menschenseele sehen. Es war fast vollkommen
still, bis auf eins: der Klang der Harfe.
    Die unheimliche Stille, die wie Nebel über dem verlassenen
Gelände schwebte, wurde dadurch nur noch verstärkt.
    Ihr Herz hämmerte wie wild, als sie zum Tor ging. Teils
hoffte sie, es wäre abgeschlossen, vielleicht hatte sie das die
ganze Fahrt über gehofft. Jetzt überschattete dieser Wunsch
fast den Albtraum, der sie hierhergeführt hatte.
    Der Feigling in ihr überlegte, einfach abzuhauen, sich umzudrehen
und wieder zu fahren. Aber sie wusste, dass es unmöglich
war. Das hier würde nicht einfach von allein wieder
verschwinden, so viel war sicher.
    An dem Tor war kein Schloss, jedenfalls nicht so ein Vorhängeschloss wie an dem Schiffscontainer. Sie berührte den
einfachen Riegel, der aussah wie der eines Gartentors. Sie hob
ihn hoch, er ließ sich leicht öffnen.
    Sie schaute sich um, weit und breit war niemand zu sehen.
    Jede Faser in ihrem Körper war gespannt, als sie mit angehaltenem
Atem gegen das Tor stieß.
    Es öffnete sich einen Spalt weit. Das Tor war schwerer, als es
auf den ersten Blick aussah. Violet musste sich mit der Schulter
dagegen stemmen, um es so weit zu öffnen, dass sie hindurchpasste.
    Der Klang der Harfe übertönte alle Geräusche um sie herum,
die erwachende Stadt hinter ihr, den Ozean vor ihr. Es hatte
etwas Surreales, wie der Soundtrack zu einem Horrorfilm.
    Doch es war kein Film. Violet war hier, um eine Leiche zu
suchen.
    So leise wie möglich schlich sie um die Container herum
und folgte dem
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