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Ruf der verlorenen Seelen

Ruf der verlorenen Seelen

Titel: Ruf der verlorenen Seelen
Autoren: Derting Kimberly
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Violet aus der
Konzentration.
    Violet hatte gar nicht gemerkt, dass sie sich von den Geschäften
im Hafen entfernt hatte. Sie blieb stehen und hob eine
Hand. »Ich dachte, ich hätte was gehört«, sagte sie geistesabwesend.
    Sie überlegte, ob sie dem Drang widerstehen sollte, dem
Geräusch zu folgen. Es wäre besser, es einfach zu ignorieren.
Chelsea wusste nichts von ihrer Gabe. Und was sollte sie tun,
wenn sie das tote Wesen fand, das sie lockte? Hier gab es keinen
Platz, wo sie es beerdigen konnte, und mitnehmen konnte sie
es ja schlecht.
    Wenn Violet ein Tier fand, das einem Raubtier zum Opfer
gefallen war, kümmerte sie sich meist selbst darum. Sie hatte
ihren eigenen Friedhof. Ziemlich makaber, aber unverzichtbar
für ein Mädchen, das Tote aufspüren konnte.
    Falls das tote Wesen sich als Mensch herausstellte, lag die
Sache natürlich ganz anders.
    Hatte ein Echo sie einmal gerufen, fand Violet so lange keine
Ruhe, bis das tote Wesen richtig bestattet war. Erst wenn es
einen Ruheplatz hatte, wurde das Echo schwächer und zog
sich in den Hintergrund ihres Bewusstseins zurück. Ganz verschwand
es nie, doch es verfolgte sie nicht mehr. Dann konnte
Violet aufatmen.
    Jetzt versuchte sie nicht, dem Drang zu widerstehen, stattdessen
hörte sie sich sagen: »Bleib du mal hier, Chels. Ich bin
gleich wieder da.« Sie wartete die Antwort ihrer Freundin nicht
ab und ging weg.
    Es dauerte einen Moment, bis Violet das Geräusch wieder
geortet hatte, es zog sie fort von den Landungsbrücken.
    Es war weiter entfernt, als sie gedacht hatte, und sie nahm
nur am Rande wahr, dass sich ihre Umgebung radikal veränderte.
Unter ihrer Haut klang die Harfe weiter.
    Sie ging auf der Straße gegenüber vom Puget Sound an den
hübschen Antiquitätengeschäften und an den verblichenen
Backsteinhäusern des alten Seattle vorbei, direkt auf die Hafenanlagen
zu. Vor ihr tauchte ein hoher Maschendrahtzaun
mit Stacheldraht darüber auf. Er stand in scharfem Kontrast zu
den Kopfsteinpflasterstraßen und den abgenutzten Planken der
Anlegestege hinter ihr. Der unebene Betonboden unter ihren
Füßen hatte große Risse.
    Am Zaun waren Schilder befestigt mit der Aufschrift: »Zutritt
für Unbefugte verboten!«
    Hinter dem Zaun befanden sich in langen Reihen riesige
übereinandergestapelte Stahlcontainer. Sie bildeten eine undurchdringliche
Festung und versperrten die Sicht auf Industriepaletten
und ein Heer von Gabelstaplern. Gewaltige rote
Stahlkräne ragten hoch über den Containern auf. Ein paar
Frachter trieben im Hafenbecken.
    Immer wieder landeten Möwen auf dem Boden, strahlend
weiße und graue, und suchten nach Essensresten.
    Es war Samstag und die Werften waren fast verlassen, nur
vereinzelte Autos standen auf den Parkplätzen. Das große
Haupttor war offen.
    Unbemerkt schlüpfte Violet hinein. Sie war so versunken,
dass sie keinen Gedanken daran verschwendete, ob jemand sie
sehen könnte. Der sanfte Klang der Harfe wurde lauter, bis die
Schwingungen beinahe schmerzten, und Violet merkte, dass sie die Zähne zusammengebissen hatte. Das Echo hielt sie gefangen.
Und sie war ganz nah dran.
    Sie ging um einen Turm von Containern herum, die in mattem
Rot, Blau und Stahlgrau gestrichen waren.
    Die Luft roch nach Salzwasser und Violet wunderte sich, dass
ihr das erst jetzt auffiel. Das Salzwasser und die Harfe. Und ein
Toter.
    Sie blieb stehen, als sie plötzlich merkte, dass sie nicht mehr
allein war.
    Sie spürte, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellten.
Jemand war hinter ihr und beobachtete sie.
    Violet hielt den Atem an. Sie hatte Angst, sich umzudrehen.
Und noch mehr Angst, sich nicht umzudrehen. Dieses Gefühl,
dass jemand sie verfolgte, hatte sie schon einmal gehabt. Alle
Muskeln in ihrem Körper waren angespannt.
    Sie hatte keine Wahl, sie musste wissen, wer hinter ihr stand.
    Eins … zwei …
    Noch ehe sie bei drei war, wurde sie fest am Arm gepackt.
    Violet zuckte zusammen, ihr Herz machte einen Satz.
    Als sie sich umdrehte, schrie Chelsea auf. Mit weit aufgerissenen
Augen starrte Violet sie an. Chelsea schlug sich eine
Hand vor den Mund.
    Â»Mann, Chels! Ich hab dir doch gesagt, du sollst warten!«,
zischte Violet. Sie zog Chelsea näher zu den Containern heran,
wo sie nicht gesehen werden konnten.
    Chelsea fasste Violets Hand. »Was hast du denn gehört, Vi?«
    Violet legte einen Finger auf die Lippen und
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