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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten
Autoren: Marcel Feige
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Zufall, alles hat ein Ziel. Auch dein Besuch in dieser Zeit, unsere Begegnung, dieses Gespräch.«
    Philip stöhnte. »Und was soll ich tun? Warten, bis ein Blitz mich zurück in meine Zeit schleudert?«
    Hanussen hakte sich bei ihm unter. »Lass es geschehen. Wehre dich nicht dagegen. Dann wirst du erfahren, warum du derjenige bist, der diese Gabe trägt – und worin sie besteht.«
    Vielleicht hatte Hanussen Recht. Vielleicht musste er einfach nur das, was geschah, akzeptieren. Sich nicht mehr dagegen auflehnen. Vielleicht würde dann alles gut werden.
    »Lass uns verschwinden«, sagte Hanussen und lächelte. Er rief eine Droschke, die sie durch das nachttrunkene Berlin schaukelte.
    »Der Alexanderplatz«, flüsterte der Magier und deutete auf das weiträumige Areal, das ihr Wagen kreuzte. Elektrizität tauchte den Platz in ein schummriges Zwielicht. Der Fernsehturm, die Weltzeituhr, all die Wahrzeichen waren verschwunden.
    Nicht verschwunden, korrigierte sich Philip. Sie müssen erst noch gebaut werden. So seltsam der Gedanke war, die Vorstellung fiel ihm nicht mehr schwer. Immerhin, das Berolina- und das Alexanderhochhaus machte er in der trüben Dunkelheit aus, zwei Gebäude, die bis in seine Zeit überdauern würden.
     
     
    Im Westen graute bereits der Morgen, als das Automobil auf den Ku’damm rollte und unweit eines prunkvollen Hauseinganges hielt, über dem in großen Lettern Kaufhaus geschrieben stand. Viele Jahre später würde es den Namen KaDeWe tragen.
    Hanussen führte Philip in ein Variete, dessen Fassade bunt geschmückt war. Aus dem Innern drang Applaus auf die Straße, über den sich bald darauf ein munteres Gejohle legte.
    »Die Weiße Maus«, sagte Hanussen augenzwinkernd, als sei damit alles hinreichend erläutert. Sie durchschritten einen lang gestreckten Gang und die Stimmen wurden lauter. »Berlins berühmt-berüchtigtes Vergnügungsetablissement.«
    Sie erreichten einen von Alkohol, Zigarrenrauch und Freudenschweiß geschwängerten Saal, der selbst zu dieser frühen Morgenstunde noch voller Menschen war. Die Männer trugen feinsten Zwirn, die Frauen dagegen leichte Kleider. Nahezu alle verbargen ihre Augen hinter schmalen schwarzen oder weißen Masken.
    »Die meisten wollen hier nicht erkannt werden«, meinte Hanussen leise. »Das Lokal gilt als Treffpunkt der Berliner Unterwelt.«
    Das Licht wurde gelöscht. Scheinwerfer beleuchteten eine Bühne am hinteren Ende des Saals.
    »Wir kommen genau richtig«, sagte Philips Begleiter.
    Ein Conferencier in Frack und Fliege betrat die Bühne. »Sehr verehrte Damen und Herrschaften, freuen Sie sich zum Ende dieser wunderbaren Nacht auf die ebenso wunderbare Anita. Auf Anita und ihren schaurig schönen Tanz des Lasters, des Grauens und der Ekstase.«
    Er trat ab, und während ein Piano eine schwermütige Melodie anstimmte, schwang der Vorhang zur Seite und gab den Blick frei auf eine junge Frau, die nichts außer durchsichtigen Schleiern am Leib trug.
    Der Conferencier hatte nicht übertrieben – die Menge tobte, als die in der Tat zauberhafte Anita sich zu den Klängen der Musik zu wiegen begann. Mit entrückter Miene floss ihr kleiner, zerbrechlicher Körper zu den Akkorden dahin, die immer schräger wurden und dem Pianisten höchste Konzentration abverlangten. Ihr Tanz war eine Kunst für sich. Anfangs noch liebreizend, dann zunehmend erschreckender. Imaginäre Schreie entrangen sich ihrem roten Mund, in sichtbarem Entsetzen über Gesichter, die plötzlich auftauchten und die nur sie sehen konnte, vage vor ihren Augen, in einer anderen Welt. Ihre harmonischen Bewegungen verwandelten sich in ein marionettenhaft abgehacktes Rucken, ihr Busen wackelte unter dem Gazestreifen wie rohes Fleisch, kalt und leblos.
    Hanussen beugte sich herüber, in seinen Pupillen glomm Faszination. »Ihre Tänze… Sie sind das beste Programm, was sie jemals hatte. Und was sie jemals haben wird.«
    »Woher hat sie diese Tänze?«, fragte Philip atemlos, ohne den Blick von der Bühne abzuwenden.
    »Sie handeln von Wahnsinn, Selbstmord und Rauschgift. Niemand spricht es aus, aber alle wissen es – Kokain und Morphium sind Anitas wichtigste und persönlichste Inspirationen. Anita kennt, was sie tanzt. Sie ist süchtig.«
    Philip kam nicht umhin, die schmerzliche Parallele zu seinem eigenen Leben in Anitas ekstatischem Tanz zu erkennen – die morbide Faszination, welche die Darbietung auf ihn ausübte, wurde von dieser Erkenntnis noch verstärkt.
    Das Publikum im Saal
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