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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten
Autoren: Marcel Feige
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Verfalls war nicht das Schrecklichste. Schlimmer war die Erkenntnis, dass alle, die da auf mich zukamen, etwas mit mir gemein hatten: Sie waren gewaltsam aus dem Leben gerissen worden. Manchen stand ein Bein in unnatürlichem Winkel vom Körper ab, als seien sie, wie ich, von einem Auto angefahren worden. Dem einen war der Unterkiefer zertrümmert, anderen die Nase eingeschlagen, wieder anderen fehlte der halbe Schädel, als hätte ein Fleischer mit seiner Axt ganze Schlachterarbeit geleistet. Es gab Leichen, die noch nicht gänzlich verwest waren und zerfetzte Kleidung trugen, von Einschüssen durchlöchert oder von Messern zerfetzt. Die T-Shirts und Kleider waren blutgetränkt, die Augen vor Schreck geweitet, als erlebten sie noch immer den Moment des Todes, Hände flehten um Gnade.
    Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich schrie auf. Die Finger waren nichts als Knochen. Sie gehörten zu einem Skelett ohne Fleisch, Haut und Haare, immerhin in Kleiderfetzen gehüllt.
    Ich löste mich aus seiner Umklammerung, da berührte mich bereits die nächste Schreckensgestalt. Die Untoten grabschten nach mir, einer nach dem anderen. Voller Panik wollte ich nach dem Mann unter dem Baum rufen, ihn um Hilfe bitten, doch als ich meinen Kopf zu ihm wandte, war er verschwunden. An seine Stelle war etwas anderes getreten, etwas, das sich nicht im Schatten der Bäume verborgen hielt. Meine Augen weiteten sich entsetzt. Was immer es war, es war durch und durch böse. Es drang ihm aus allen Poren, benetzte Ekel erregend seine Haut, schien ihm fast sichtbar von den Fingerkuppen zu tropfen.
    Ich spürte die mörderische Hitze, die von ihm ausging, ein Höllenfeuer, das mich verzehrte und vor dem es kein Entrinnen geben konnte. Ich sank auf die Knie und ergab mich den heißen Berührungen des Todes.

Montag
     
    Berlin
     
     
     
    Höllenfeuer explodierte vor seinen Augen. Flammen sammelten sich, verschmolzen und lösten sich in geheimnisvoll zischelnden Zungen auf. Sie gierten nach ihm und drohten, ihn mit sengendem Maul zu verschlingen. Er brach in Panik aus, wollte vor der Hitze fliehen, egal wohin, doch etwas lähmte ihn. Obwohl sein Verstand ihm befahl, auf der Stelle kehrtzumachen und zu verschwinden, konnte er sich nicht bewegen; etwas verdammte seinen Körper zur Regungslosigkeit. Er war gezwungen, die Flammen zu beobachten, wie sie dichter an ihn heranrückten, näher und näher. Er spürte Hitze, die sie mit sich brachten und die seine Haut wie ein Stück Speck grillte. Für einen Augenblick dachte er an die sommerlichen Grillabende mit seinen Freunden im Park. Absurd, denn was seine Nase jetzt roch, war nicht der köstliche Duft von Marinade und Chilisauce, sondern der scharfe Gestank von menschlicher Haut, die verbrannte. Seiner Haut. Er schrie auf; nicht weil die Flammen ihn berührten, sondern weil der Tod unausweichlich war: Er kam elendig um, und das nur, weil er sich nicht bewegen konnte und hilflos dem Feuer ausgeliefert war. Gab es einen schlimmeren Tod?
    Wie zur Antwort klatschte eine Hand in sein Gesicht. Einmal. Zweimal. Der kurze Schmerz auf seinen Wangen war eine Wohltat im Vergleich zu der Hitze, mit der die Flammen über seine Haut strichen. Die Ohrfeige war ein Rettungsring auf hoher See, die einzige Chance kilometerweit, die sich ihm bot. Er ergriff sie, und seine Aufmerksamkeit löste sich von dem verstörenden Mahlstrom. Als habe sie nur darauf gewartet, erlosch die Feuersbrunst mit einem Mal. Sie fiel in sich zusammen, war ganz plötzlich einfach verschwunden und hinterließ nicht einmal Qualm und Staub, sondern nur Dunkelheit. Für einen Augenblick war er verblüfft über den jähen Wandel. Wo bin ich? Wer bin ich? Was geschieht mit mir? Ist es Nacht? Wo sind die Sterne? Egal. Hauptsache, das Feuer verbrutzelte ihn nicht mehr zu einem traurigen Häufchen Asche.
    Stattdessen ließ er sich selig in der Finsternis treiben, zumindest glaubte er, Bewegung zu spüren. Vielleicht sah er sie auch. Er war sich nicht sicher, zu tief war das Schwarz, das sich vor ihm erstreckte.
    Eine Stimme erreichte sein Bewusstsein. Zuerst noch von weit entfernt, als stehe ihr Urheber jenseits der finstren Mauer. Doch die Stimme näherte sich, und der letzte Rest der Verzweiflung fiel von ihm ab, auch wenn er nicht verstand, was der Unbekannte ihm erklärte. Aber allein das Wissen um die Anwesenheit einer weiteren Person beruhigte seinen aufgewühlten Geist. Niemand wandert gerne allein durch die Nacht.
    Immer mehr Laute fanden
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