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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten
Autoren: Marcel Feige
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mich, dann schläft er selbst wieder ein!
    Also verließ sie das Bett und ging unter die Dusche. Seit zwölf Monaten lebte sie mit Paul unter einem Dach. Das kleine, schmale Reihenhäuschen in der Willow Road gehörte seinen Eltern. Die Entscheidung, zu ihm zu ziehen, war ihr nicht leicht gefallen. Für die Wohnung sprach der Hampstead Heath, der keine hundert Meter Fußmarsch von ihrer Haustür entfernt lag. Die grüne Oase war für sie, die inmitten des beschaulichen Landlebens von Lindisfarne an der Nordseeküste groß geworden war, eine Wohltat im Vergleich mit dem hektischen Wirrwarr der Kulturen, das vor den Fenstern ihrer alten Studentenbude in Camden Town herrschte. Gegen die Wohnung sprach allerdings die Pension seiner Eltern, die sie keine hundertfünfzig Meter entfernt betrieben.
    Es war abzusehen gewesen, dass sich ihr Leben durch den Umzug verändern würde. Und tatsächlich hatte es Einschnitte gegeben, manchmal drängte sich ihr das Gefühl auf, ihre Zukunft nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Noch konnte sie nicht bestimmen, woran genau sich dieses Gefühl festmachte. Waren es seine Eltern, die sich immer öfter in ihr Leben einmischten? Oder war es Paul selbst, der sich verändert hatte? Sie wusste es nicht und würde unter der Dusche gewiss auch keine Antwort finden.
    Sie kleidete sich an und kehrte zurück ins Schlafzimmer. Paul lag lang ausgestreckt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und wartete – auf sie. Bea kam ihm zuvor: »Paul, ich gehe kurz zum Supermarkt. Soll ich dir was mitbringen?«
    Er setzte sich auf, die Decke rutschte herunter und entblößte seinen Schoß. »Ich komme mit!«
    »Ist nicht nötig.«
    Zweifelnd sah er sie an. »Wirklich nicht?«
    »Ganz sicher!«, wehrte sie freundlich, aber bestimmt ab.
    »Was willst du denn holen?«, fragte er.
    »Ach, ein bisschen Gemüse, dies und das.«
    »Kochst du uns was Schönes?« Seine Augen funkelten. Vermutlich nahm er an, sie wolle Vorbereitungen für ein Abendessen treffen. Eine ihrer Spezialitäten war es, aus unterschiedlichsten – und billigen – Zutaten Speisen zu kreieren, die sich in keinem Rezeptbuch fanden. Eine Kunst, in die Elizia, ihre Mitbewohnerin, sie an ihrem allerersten Tag in Camden Town eingeführt hatte. Was Elizia wohl gerade machte?
    »Mal schauen«, antwortete sie. In Wahrheit war sie froh, für ein paar Minuten an die frische Luft zu kommen. Ein stressiges Wochenende wie das zurückliegende weckte in ihr das Verlangen nach Ruhe. Leider war Paul nicht der Typ Mann, der sich gern still auf die Couch setzte und entspannte.
    So nahm sie sich selbst die Freiheit; ein Spaziergang durch den Park oder ein Bummel durch den Supermarkt mit ausgiebigem Zwischenstopp im Cafe konnten Wunder wirken. Sie musste sich dafür nicht einmal umziehen. Sie trug den weiten Pullover und ihre alten verwaschenen Jeans, in denen sie daheim gern auf der Couch herumfläzte, schlüpfte in die ausgetretenen Nikes, die nur noch von den Schnürsenkeln zusammengehalten wurden, und streifte sich die Jacke über, die wahrscheinlich auch schon ein halbes Dutzend Jahre auf dem Buckel hatte. Mit anderen Worten: Sie fühlte sich wohl in diesem Outfit.
    Und es stand ihr unglaublich gut, fand jedenfalls Paul. Der Blick, mit dem er sie jetzt musterte, während sie im Durchgang zum Bad ungeduldig darauf wartete, dass er seine Wünsche aufzählte, war ihr mehr als vertraut. Sie fragte: »Wieso habe ich gerade das Gefühl, dass du an alles denkst, nur nicht an den Supermarkt?«
    Er hob grinsend die Schultern. »Ich bin die Unschuld vom Lande.«
    »Kann es sein, dass du ein kleiner Nimmersatt bist?« Mit einem Nicken deutete sie auf sein Gemächt, das verdächtig zuckte.
    »Ja«, röhrte er, sprang vom Bett und stürmte wie ein Stier auf sie zu. »Ich kann von dir einfach nicht genug bekommen.«
    Sie ergriff die Flucht, rannte die Treppen hinab. Kurz bevor sie nach draußen entkommen konnte, bekam er sie zu fassen. Verspielt rangen sie miteinander, stießen gegen das Sideboard in der Diele, und beinahe wäre die Vase mit den weißen Nelken auf den Boden gekracht, hätte Beatrice nicht rechtzeitig ihre Hand darauf gehalten. Manchmal verhielt er sich wie ein ungestümes Kind. »Paul!«, mahnte sie. »Bitte pass auf.«
    »Tut mir Leid«, sagte er und presste sie an sich. »Aber bei deinem Anblick werde ich ganz verrückt.« Er strich ihre schwarzen Haare beiseite. »Komm mit mir zurück ins Bett«, flüsterte er an ihrem Ohr.
    »Du wirst doch nicht etwa
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