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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten
Autoren: Marcel Feige
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natürlich, es konnte nicht anders sein! Auf einmal sah sie sich selbst als kleines Mädchen in einem Kleid mit wunderschönen Sonnenblumen inmitten der anderen Kinder, wie sie im Klassenraum das Lied einstudierten.
    Ihr Herz machte einen freudigen Satz, und sie bedauerte, dass der Ort klein und menschenleer war – jetzt hätte sie jeden umarmt, um ihn an ihrem unverhofften Glück teilhaben zu lassen. Den Kinderreim zu hören, erfüllte sie mit überschäumender Freude. Es war wie eine Reise in die Kindheit – in ihre verloren geglaubte Erinnerung.
    Jetzt konnte es keinen Zweifel mehr daran geben, dass es richtig gewesen war, nach Lindisfarne zu fahren.
    Ausgelassen überquerte sie die Straße und betrat den Supermarkt. Sie wollte noch mehr von Bexhill sehen, noch viel mehr erfahren, plötzlich brannte Ungeduld in ihr, trieb sie an mit der Hoffnung, weitere Erinnerungen würden den Weg zurück in ihr Bewusstsein finden.
    Der Supermarkt machte nicht nur von außen einen kleinen Eindruck, er war es auch innen. Aufmerksam sah Beatrice sich um, studierte jede Einzelheit. Sie bestellte einen heißen Kaffee, und während die ältere Dame hinter der Kasse die Maschine bediente, sagte Beatrice: »Eine schöne Schule.«
    »Ja«, erwiderte die Verkäuferin.
    »Und die Kinder lernen schöne Lieder. Ich erinnere mich an das Lied. Ich glaube, ich habe es selbst in der Schule gesungen.«
    Die Frau sah sie schief an. »Die Schule ist seit zehn Jahren geschlossen.«
    Beatrice erstarrte. »Sie veralbern mich.«
    »Hätte ich einen Grund dazu?«
    Wie in Trance bezahlte Beatrice, und als sie wieder draußen auf dem Bürgersteig stand, galt ihr erster Blick der Schule. Das Gebäude lag nach wie vor im Schatten der Bäume. Doch war das die einzige Gemeinsamkeit mit dem Haus, das sie noch vor wenigen Minuten betrachtet hatte. Das Stroh war zum Großteil vom Dach gerissen, der kümmerliche Rest war schwarz vor Ruß, den ein Feuer hinterlassen hatte. Verkohlte Holzbalken ragten schief in den Himmel. Das Mauerwerk ringsum war rissig und spröde, die Fenster erwiderten glaslos ihren Blick. Hier lernten und spielten keine Kinder, schon lange nicht mehr.
    Beatrice erinnerte sich an die Prozession der Kinder, die sie in London miterlebt hatte, diese eigentümliche – Erscheinung, sag es schon! Und sie entsann sich der Frau, die ihr die Hand hatte reichen wollen. Mama, bist du es?
    Sie kippte den heißen Kaffee, an dem sie nicht einmal genippt hatte, in den Rinnstein und warf den Pappbecher in einen Papierkorb. Die Verkäuferin, die hinter der Schaufensterscheibe stand, schüttelte mitleidig den Kopf. Beatrice eilte zur Bushaltestelle und bestieg wenige Minuten später den Bus in Richtung Lindisfarne.

Berlin
     
     
     
    Philip erwachte und hatte keine Ahnung, wie lange er bewusstlos gelegen hatte. Die gläserne Kuppel der Deutsche Bahn-Zentrale beugte sich über ihn, daneben das grüne Viereck des Debis-Hochhauses. Dazwischen das Gesicht einer alten Frau.
    »Fürchte dich nicht«, sagte sie. Irgendwo in der Ferne heulten Polizeisirenen.
    Er hatte keinen Grund mehr, sich zu fürchten. Vergiss niemals die Kraft und die Leidenschaft. Er erinnerte sich an Anitas Worte, und sie gaben ihm Kraft. Mit ihrer Hilfe konnte ihm nichts geschehen. Keine Sekunde zweifelte er daran, wirklich durch die Zeit gereist zu sein – er wusste es einfach.
    »Es tut mir Leid«, sagte die Alte. Er traf sie nicht zum ersten Mal, er erinnerte sich an sie, genauso wie an Anita, die wunderbare zerbrechliche Anita und ihre Tänze des Lasters, des Leidens und der Ekstase.
    Er hustete. »Warum verfolgen Sie mich?«
    »Weil ich auf dich aufpasse.«
    »Sie passen auf mich auf?«
    »O mein Philip, merkst du es nicht?«
    »Ob ich es nicht merke?«, keuchte er. »Ich spüre etwas, ich sehe etwas, ich höre etwas. Aber ich verstehe es nicht.« Er holte Luft. »Vielleicht können Sie es mir sagen? Ich meine, schließlich passen Sie auf mich auf – und ich wette, auch das wird seine Gründe haben.«
    »Das hat es, mein Junge. Das hat es.«
    Das Sprechen fiel ihm schwer. Eine Reise durch die Zeit konnte ganz schön anstrengend sein, musste Philip erkennen. »Wer… sind… Sie?«
    Inzwischen heulte das Martinshorn so laut, dass er ihre Antwort nicht verstand. »Wer?«, fragte er noch einmal. Aber diese Frage war überflüssig. Ihr Gesicht. Dieses Gesicht.
    Türen knallten. Schritte näherten sich. Ein Polizeibeamter beugte sich über ihn. Diesmal war die Uniform nicht blau, sondern
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