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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten
Autoren: Marcel Feige
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schien die Vorführung uneingeschränkt zu genießen. Sie klatschten und brüllten, vereinzelt riefen Männer ihr hemmungslose Liebesschwüre zu. Anita zeigte sich nicht erfreut über die Zurufe, sie beantwortete jede Anzüglichkeit mit Obszönitäten, was die Männer vor der Bühne nur noch mehr anstachelte.
    Unablässig drehte sie sich in ihren durchsichtigen Schleiern weiter, zuckend wie ein indischer Derwisch. Es dauerte nicht lange, und das ganze Lokal versank in einem tosenden Abgrund von Geschrei, Gezeter und Gelächter. Anita sprang in rasender Wut über die Rampe hinweg, griff nach einer Sektflasche und hieb sie dem nächstbesten Gast über den Schädel. Blut sickerte aus einer Wunde an der Schläfe, aber die tobende Tänzerin war noch nicht besänftigt. Mit erstaunlicher Kraft stieß sie Tische um, hob Stühle an und schmetterte sie zu Boden. Jemand eilte herbei, der Geschäftsführer, ein ehemaliger Mittelgewichtsmeister im Boxen. Er riss die Tänzerin zurück, die Kellner versuchten, in dem Wirrwarr die Tische und Stühle aufzurichten. Der Tanz war beendet, Anita hinter der Bühne verschwunden, der Vorhang geschlossen. Die Männer widmeten sich wieder wichtigeren Dingen, dem Alkohol und den Frauen, die greifbar neben ihnen saßen.
    »Ich möchte dir jemanden vorstellen.« Hanussen packte Philip am Jackenärmel und zog ihn mit sich in eine Kammer abseits der Bühne. Anita stand vor ihm, nackt, wie Gott sie geschaffen hatte: Ihre Haut war elfenbeinfarben, glatt und ohne Makel.
    »Anita«, sprach Hanussen sie an. »Darf ich dir Philip vorstellen? Er ist nicht von hier.« Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
    Schweigend standen sie sich gegenüber. Schwarzes Haar umrahmte ihr schmales Gesicht. Blass und schön und leer, wie eine lebendige Maske, die alles erzählte und nichts verriet. Sie entsprach nicht dem klassischen Schönheitsideal, gleichwohl ging von ihr eine eigenartige Attraktivität aus, die Männer sicher scharenweise um den Verstand gebracht hatte. Der Schweiß überzog ihren weißen Körper wie eine zweite Haut. Ihre Brustwarzen ragten steil empor. In dem winzigen schwarzen Dreieck über ihrer Scham glänzten kleine Tropfen wie Perlen.
    Trotz der Blöße strahlte sie Gelassenheit und Ruhe aus, und seltsamerweise empfand auch er die Situation nicht als peinlich. Was aber nicht bedeutete, dass der Anblick ihn ungerührt ließ. Sie schien sich ihrer Wirkung auf ihn bewusst und streifte das feine Gazehemd über, das sie bereits auf der Bühne getragen hatte. Sie setze sich auf den einzigen Stuhl, den die Umkleide zu bieten hatte. Auf dem Tisch davor schob sie die wenigen Schminkutensilien beiseite und träufelte aus einer fingergroßen Emailledose weißes Pulver, das sie zu zwei geraden Linien formte, auf das glatte Holz.
    Sie sah zu ihm auf. »Möchtest du auch?«
    Er nickte. Mit einem zusammengerollten Geldschein sog sie das Kokain in ihren Nasenflügel, und er tat es ihr gleich. Augenblicklich merkte er, wie der Stoff seine Nervenbahnen stimulierte.
    »Ich weiß genau, was mit mir los ist.« Sie lachte, und ihre breiten Lippen kräuselten sich an den Mundwinkeln. »Ich schnupfe Kokain. Ich habe schon entzündete Nasenflügel davon, sieh her!« Sie präsentierte ihm ihre Nasenlöcher, doch er konnte nichts entdecken.
    »Du kommst nicht von hier?«, fragte sie unvermittelt. Noch immer hatte sie es nicht für nötig gehalten, sich mehr als den Gazestreifen überzuziehen. Der Raum war gut geheizt, und sie schien seine begehrlichen Blicke zu genießen.
    »Nein… doch…ja, ich komme aus Berlin«, stammelte er. Er kam sich vor wie ein kleiner Schuljunge. Hoffentlich schlug das Koks bald an.
    »Du bist ein komischer Kauz.« Sie lächelte. »Aber interessant.«
    »Deine Tänze auch.«
    »Hat dir mein Tanz gefallen?« Sie bemerkte sein Zögern. »Es hat dir nicht gefallen?«
    Er überlegte. Sie stand auf und trat neben ihn. Ihr Körper strahlte Hitze aus. Philip spürte, wie der Schweiß sich unter seinen Achseln sammelte. Wieder lächelte sie. »Ich habe die Kraft und die Leidenschaft, die verlogene Poesie bürgerlicher Wunschvorstellungen zu zerstören und sie zu ersetzen durch etwas, was ehrlicher ist, obszön und vulgär.« Ihre Hand berührte seine Wangen. Ihre Stimme klang entrückt und verträumt. »Und ich glaube, auch du hast diese Fähigkeit.«
    Ihre Augen bohrten sich in seine, ihr Blick drang ein in seinen Kopf, seinen Körper. Philip stand
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