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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten
Autoren: Marcel Feige
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die dichte Wand aus taumelnden Flocken.
    Hanussen wollte hinterher, doch Philip hielt ihn zurück. »Lass ihn. Er wird seine gerechte Strafe finden.«
    Schweigend nickte der Magier.
    Der Wind heulte um die Häuser, und er trug auf seinen kalten weißen Tränen die Erkenntnis: Philip hatte etwas verändert. Er hatte die Zeit verändert. Die Folgen dessen konnte er noch nicht absehen, doch er spürte, sie würden gewaltig sein. Er hatte das Gefühl, etwas Großartiges bewirkt zu haben, etwas, was nicht nur im Hier und Jetzt von Bedeutung war, sondern weit über diesen Augenblick hinaus Bestand haben würde.
    Langsam richtete sich die Frau auf. Diesmal war sie nicht nackt, und ihre Haut war noch immer rein und ohne blutige Krater. Sie lächelte Philip an. Er schwor, niemals dieses Lächeln zu vergessen und die Dankbarkeit, die darin lag. Dann übermannte ihn die Erschöpfung. Heftiger Schwindel ließ ihn wanken, er taumelte in das Schneetreiben, sank kraftlos zu Boden.

London
     
     
     
    Das Dorf hieß Bexhall und war die vorletzte Station auf dem Weg nah Lindisfarne. Beatrice verließ den Bus, in den sie gestiegen war, nachdem der Zug sie bis Berwick-upon-Tweed gebracht hatte. Eine andere Linie würde sie nach Lindisfarne bringen, versicherte ihr der Busfahrer, ein neues Ticket müsste sie nicht kaufen; ihr Fahrschein sei bis Lindisfarne gültig.
    Weil der nächste Bus erst in einer Dreiviertelstunde fuhr, beschloss sie, ein wenig den Ort zu erkunden. Der Wind ging hier stärker als in London, und sie glaubte, sogar die Meeresluft schon riechen zu können, die er über die Deiche hertrieb. Bestimmt waren die Bewohner von Bexhall glückliche Leute, sich so nahe am Meer zu wissen. An ihrer Stelle würde sie den ganzen Tag nur am Strand verbringen und dem Rauschen der Brandung lauschen. Vielleicht hatte sie dort, als sie noch ein Kind war, tatsächlich den größten Teil ihrer Zeit verbracht. Um das herauszufinden, hatte sie die Reise angetreten.
    Bexhall bestand im Grunde nur aus einer Hauptstraße, und die meisten Häuser, mit Stroh gedeckte Steincottages, standen direkt an der Straße, nur hier und da gab es einen kleinen Vorgarten, der von niedrigen Palisadenzäunen umsäumt wurde. Jeder der Gärten war sorgsam gepflegt, selbst jetzt im Winter, dessen Minusgrade jeder Blume über kurz oder lang alles Leben austrieben. Trotzdem vernahm sie das Zwitschern der Vögel, die nicht in den Süden geflogen waren, und wenn auch jeder Vogel sein eigenes Lied pfiff, so klang das Ganze dennoch harmonisch. Selbst das Hämmern eines Spechts aus größerer Entfernung fügte sich sanft in das Konzert ein.
    Ein kleiner Supermarkt tauchte hinter einer Wegbiegung auf. Auf einen Blick war zu erkennen, dass sich der Laden nicht erst seit gestern im Ort befand. Das Schild über dem Eingang war von vielen Sonnentagen vergilbt, die Artikel im Schaufenster ausgeblichen. Zweifelsohne tickten die Uhren auf dem Land noch anders. Ein Laden wie dieser war in der Großstadt nicht mehr denkbar. Ein Schild pries in Kreideschrift diverse Sonderangebote und täglich frischen Kaffee und Kuchen an.
    Beatrice entschied, sich einen Kaffee zu gönnen. Sie lief über die Straße und ihr fiel auf, wie still es war. Ein paar Meter weiter entdeckte sie eine Schule. Das Gebäude reihte sich nahtlos in den malerischen Anblick der umstehenden Häuser ein, obschon es alle anderen überragte. Doch auch die Schule bestand ganz aus Stein und war mit Stroh gedeckt, idyllisch und fast romantisch, zumindest nicht so, wie man sich landläufig eine Schule vorstellte. Die Kinder, die hier zum Unterricht gingen, konnten sich glücklich schätzen.
    Wie zum Beweis trug der Wind Kinderstimmen herüber. Sie übten einen Kinderreim, und Beatrice lauschte dem glockenhellen Gesang. Er war überraschend klar und harmonisch, fast betörend und merkwürdig vertraut, nicht nur, weil er ihre eigene Situation beschrieb.
     
    »Aber in unserem Kinderglauben Ließen wir nimmer die Hoffnung uns rauben. Ach, unsre Seelen hofften zu glühend, Ach, unsre Träume waren zu blühend…«
     
    Sie ertappte sich dabei, wie sie die Strophen leise mitsummte, ihre Lippen bewegten sich stumm zu den Wörtern, die ihr wohlbekannt waren.
     
    »Und so stehen wir jetzt vor dem Leben,
    Soll uns ernste Antwort geben:
    Was von all den ersehnten Dingen
    Hast du gebracht und wirst du uns bringen?
    Spricht das Leben: Jedem sein Teil.«
     
    Beatrice erinnerte sich an den Kinderreim, es war unglaublich. Aber
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