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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten
Autoren: Marcel Feige
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ihren Weg zu ihm, formten sich zu Worten und Sätzen und ergaben schließlich einen Zusammenhang:
    »Werd wach! Verdammt, du Arschloch, komm zu dir.«
    Die Stimme war schrill. Sie gehörte einer Frau, musste von einer Frau stammen. Kein Mann konnte so Trommelfell zerreißend hoch schreien. Die Hitze war schlimm gewesen, aber die Wortkaskade war schlimmer.
    »O Mann, du hirnverbranntes Arschloch.« Es ging noch einige Oktaven nach oben. Hinter seinen Schläfen begann es zu hämmern. »Tu mir das nicht an. Nicht jetzt. Verdammt, werd wach, Philip!«
    Philip… sein Name. Er erinnerte sich daran, das war gut. Weniger gut war die Hand, die erneut auf seine Wangen klatschte, erst auf die linke, dann auf die rechte, und Kopfschmerzen entfachte. Philip wollte auf der Stelle Widerspruch gegen diese Behandlung einlegen: Aufhören! Sofort aufhören! Er wollte brüllen: LASS MICH ENDLICH IN FRIEDEN! Doch was sich in seinem Kopf ganz vernünftig anhörte, verwandelte sich in das sinnlose Gebrabbel eines Babys, sobald die Laute seinen Mund verließen.
    »Ken, gib ihm etwas Wasser«, bat die Frau.
    »Gleich, Chris…«, antwortete jemand.
    Drei Dinge erkannte Philip auf Anhieb, als er die Augen öffnete. Erstens: Er selbst lag der Länge nach auf dem Boden, und die Frau, Chris, kniete über ihm. Zweitens: Sie war nicht alleine, denn Ken war bei ihr – wer immer Ken auch sein mochte. Und drittens: Ken war offensichtlich mit anderen Dingen beschäftigt. Denn schon wieder verlor Chris die Beherrschung und schrie: »VERDAMMT, KEN, BEWEG DEINEN ARSCH UND BRING IHM ETWAS WASSER«
    Philips Hirn rebellierte. Er presste die Augenlider aufeinander, was die Kopfschmerzen aber nicht linderte, sondern sie verschlimmerte. Schwindel gesellte sich hinzu und schickte Philip auf eine wilde Achterbahnfahrt. In seinem Magen rumorte es. Hastig riss er die Augen auf. Chris und die Dunkelheit waren verschwunden, an ihre Stelle trat die Sonne, deren greller Schein wie ein Speer seinen Schädel aufspießte. Der Schmerz, der Schwindel, die Übelkeit – sein Körper streikte. Er stöhnte, spürte den Druck in seiner Kehle, würgte und übergab sich. Und zusammen mit seinem Mageninhalt, der sich über sein Hemd, seine Hose und die Jeans von Chris ergoss, brach auch die Erinnerung aus ihm heraus.
    »Er hat doch nicht etwa…?« Der blonde Schopf von Ken schob sich dankenswerterweise vor die Sonne. Doch der Schatten währte nicht lange, Ken besaß ein empfindsames Gemüt. »Ah«, gab er von sich. »Ich darf nicht hinsehen.« Er zog seinen Kopf zurück. »O Mann, dieser Geruch… Piss die Wand an, ich glaub, mir wird schlecht.«
    Während das Licht der Sonne sich wieder über ihn ergoss, hörte Philip seinen besten Kumpel kotzen. Ein tröstliches Gefühl: Ich bin nicht der Einzige, der sich wie ein Volltrottel benimmt. Fast hätte er sogar gelacht, hätte er sich nicht so beschissen gefühlt und den Mund voller bitterer Magensäure gehabt. Er schnaufte, und eine Dunstwolke formte sich unter seinen Nasenlöchern.
    »Bin ich hier eigentlich im Kindergarten? Kann ich euch nicht mal zwei Minuten alleine lassen?« Christine, die von ihren Freunden nur Chris genannt wurde, kam wieder zum Vorschein, schüttelte tadelnd den Kopf, und ihr braunes schulterlanges Haar hüpfte dazu. Aus ihrer pinkfarbenen Handtasche kramte sie ein Papiertaschentuch hervor. Sie wollte das Erbrochene von ihrer Hose wischen. Stattdessen verrieb sie Magensäure, Drogen, das Bier und die letzten Reste der Hamburger vom Vorabend zu einem unansehnlich großen grauen Fleck auf ihrer Jeans. »Scheiße, die ist hinüber.«
    Chris ließ sich durch nichts erschüttern. Sie war toll – ein Mädchen mit braunem Haar und den richtigen Rundungen an den richtigen Stellen. Ein Mädchen, das mit ihren Klamotten Geschmack bewies und so süß und verlockend wie eine Parfümerie roch. Sie sah zu Philip und lächelte: »Willkommen unter den Lebenden.«
    Philip atmete tief durch, doch sein Zustand blieb unverändert. Er fühlte sich hundsmiserabel, alles andere als lebendig. Kälte stahl sich in seine Glieder, weil er immer noch auf dem steinigen Parkplatz neben der Diskothek lag. Die Sonne war zwar bereits aufgegangen, doch niemand konnte von ihr erwarten, dass sie mitten im Dezember ausreichend Wärme für ein Nickerchen im Freien spendete. Die Sonne… Philip erkannte, dass er ein Problem hatte: Wenn schon die Sonne schien, war es Montagmorgen und das Partywochenende vorbei. Was wiederum bedeutete: Sein
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