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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Autoren: Mark Watson
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entfernt.

7
    Wirkungen
    Chicago Herald , 3. März 1994
    Lieber Dr. Kristal,
    ich würde gern von Ihnen erfahren, was Sie von Rasomid halten, diesem neuen, noch in der Entwicklung befindlichen Medikament, das zu einer leichten Schwächung des Gedächtnisses führen kann und das (falls es zugelassen wird) unter kontrollierten Bedingungen angewendet werden soll, um Traumapatienten bei der Überwindung schmerzhafter Erinnerungen zu helfen. Sollte man es als wertvolle Behandlungsmöglichkeit für Menschen begrüßen, deren Leben von schrecklichen, wiederkehrenden Erinnerungen zerrissen wird, oder es als ein weiteres Beispiel für die Anmaßung, »Gott zu spielen«, verurteilen?
    – Interessiert an psychologischen Entwicklungen, Ohio
    PKs PROGNOSE
    Danke, dass Sie meine Aufmerksamkeit auf diese äußerst wichtige Diskussion gelenkt haben. Das Argument des »Gottspielens« wirft die Frage auf, was eigentlich der Sinn von Psychotherapie ist. Wie weit dürfen wir gehen, um die Beschwerden von Traumaopfern zu lindern? Sollen Drogen »Geisteskranken« vorbehalten bleiben oder auch geistig Benachteiligten verabreicht werden? Und ist diese Unterscheidung überhaupt noch sinnvoll? Ist das Gedächtnis ein Logbuch, aus dem wir nach Belieben hier und da schmerzvolle Seiten herausreißen können, oder eine in ihrer Funktionsweise unangreifbare Blackbox? Ist es angesichts des geheimnisvollen Gefüges, das all unsere Erinnerungen miteinander verknüpft, überhaupt möglich, einzelne Daten zu entfernen, ohne dass das gesamte Gerüst einstürzt wie ein Kartenhaus?
    Diese Fragen – wozu dient eigentlich das Gedächtnis? Und wozu dient eigentlich die Psychologie? – reichen beide, um ein Buch zu füllen, das meine intellektuellen Kräfte übersteigen würde. Ich bin der Redaktion des Herald zu großem Dank verpflichtet, weil sie mir den zusätzlichen Platz eingeräumt hat, den ich benötige, um eine Geschichte zu erzählen, die vielleicht ein Licht auf diese Fragen werfen kann.
    Letztes Jahr wurde ich dreiundvierzig. Die mittleren Jahre. Meine Lebenserwartung liegt bei achtundsiebzig, plus zwei Jahre wegen meiner Einkommensverhältnisse, minus zwei Jahre, weil ich übergewichtig und depressiv bin. Ich habe die Mitte meines Lebens überschritten, ohne meinen leiblichen Vater kennenzulernen. Sein Name ist Richard Hirst, und die Beteiligung an einer Familientragödie hat ihn bewogen, noch vor meiner Geburt aus England auszuwandern. Ich wurde von Robert Kristal großgezogen, dem Ehemann und Beschützer meiner Mutter, den ich bis vor fünf Jahren für meinen Vater hielt. Er starb Anfang 1991.
    Seither lässt mich die Vorstellung nicht mehr los, dass mein Wissen über mich lückenhaft ist, und ich versuchte, meinen echten Vater ausfindig zu machen. Mithilfe von Auswanderungs- und Einwanderungsurkunden konnte ich Richard Hirsts Spur von Witching nach Australien und – nach einer Spanne von zwanzig Jahren – wieder nach England zurückverfolgen. Ich führte Dutzende von Gesprächen mit Vermisstenstellen, setzte Anzeigen in überregionale Zeitungen, durchforstete Telefonbücher. Ich redete mit zwei oder drei Richard Hirsts, die mir mühelos beweisen konnten, dass sie mich nicht gezeugt hatten. Ende letzten Jahres erfuhr ich schließlich, dass im Pflegeheim Glens in Blackburn, Lancashire, schon seit mehreren Jahren ein Mann namens Hirst wohnt. Mit zitternden Händen wählte ich die Nummer für das Ferngespräch, obwohl mir natürlich klar war, wie gering die Chance war.
    »Ich suche nach einem … Richard Hirst.« Ich buchstabierte den Namen, der auf einmal unsinnig weit hergeholt klang wie eine lächerliche Figur in einem Theaterstück. »Wohnt er bei Ihnen?«
    »Hier gibt es keinen Hirst«, antwortete die ferne Stimme eines Mannes, und fast hätte ich schon aufgelegt, doch dann sprach er weiter. »Aber einen Horst haben wir.« Eine Pause entstand, als ich das Gehörte verdaute. »Nur ein O statt des I«, ergänzte er.
    Ohne auf seine Witze über die Feinheiten des Alphabets einzugehen, rasselte ich mehrere Fragen nach diesem Mr. Horst herunter, wurde aber enttäuscht. Im Heim wusste man nur sehr wenig über ihn. Er war vor vielen Jahren von einem Cousin abgeliefert worden und bekam inzwischen keinen Besuch mehr. Dennoch fand ich gerade das Vage an der Sache verheißungsvoll. Ich musste mein Glück versuchen.
    »Kann ich mit ihm reden?«
    »Es ist schon ein bisschen spät …« Der Mann zögerte. »Darf ich fragen, worum es geht?«
    »Er
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