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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Autoren: Mark Watson
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Reste; das Licht war schon vor einiger Zeit erloschen. Was einmal dort gewesen sein mochte, war ein Raub der Flammen geworden und nur noch schemenhaft zu erahnen. Ernüchtert und wie ein Idiot trat ich durch das Tor hinaus, nachdem ich meinen möglichen Vater zurückgelassen hatte, der in endlosen, wirren Schleifen vor sich hin faselte (zuletzt bestellte er sechs Hähnchenkeulen bei mir).
    Drei Tage zuvor hatte ich mich bei einem Seminar vorläufig für Rasomid ausgesprochen, ein Medikament, das vielleicht durch »Gedächtnisbearbeitung« den Aufruhr eines traumatisierten Bewusstseins dämpfen kann. Jetzt war ich bestürzt über ein Gedächtnis, in dem die Bilder geschnitten, vermischt und übereinandermontiert worden waren, bis nur noch ein amorpher Datenklumpen übrig war. Nach Gott weiß wie vielen Jahren der Einsamkeit war das Kurzzeitgedächtnis dieses Mannes geschrumpft, und sein auschließlich mit sich selbst beschäftigtes Langzeitgedächtnis hatte sich zu hoffnungslosen Knoten der Senilität verheddert. Die einzige Krankheit, deren Heilung man sich nicht wünscht. ES IST NIE ZU SPÄT!, blitzte es spöttisch in meinem Kopf auf.
    Ich stieg in einem schäbigen Hotel ab, das mit einer herzförmigen, die ganze Nacht flackernden Neonauslage für Honeymoonsuiten warb. In dem Zimmer, das nur mit einer papierdünnen Wand von meinem getrennt war, nutzte ein Paar geräuschvoll den Komfort der Einrichtung. In Abständen von ungefähr einer Stunde nahmen sie ihre Bemühungen wieder auf, mit einer freudlos wirkenden Püntklichkeit, als müssten sie den Bedingungen eines Sonderangebots genügen. Mir machte die Störung nichts aus; sie war unwichtig.
    Schwer auf meinem Bett ausgestreckt, machte ich Inventur. Meine Eltern waren tot, und mein leiblicher Vater war entweder verwirrt oder an einem anderen Ort, wo ich ihn niemals finden konnte. Mein Glaube an meine fachlichen Methoden war verkümmert, und meine Arbeit hatte jede Bedeutung verloren. Ich hatte weder religiöse noch philosophische Überzeugungen, an die ich mich klammern konnte. Alles, was ich geerbt hatte, war eine Festlegung auf die kalte Logik von Fragen und Antworten, die mich jetzt an einen Stacheldraht von Tatsachen fesselte. Mir fiel nur wenig ein, das meine Hoffnungen auf die Zukunft verbessern konnte, und ich brachte auch kaum Interesse dafür auf. Ich brauchte Hilfe, und es gab nur einen Menschen, von dem ich sie erwarten durfte. Der Mensch, den ich früher für meine Probleme verantwortlich gemacht habe. Doch jetzt weiß ich, dass diese Probleme aus mir selbst kommen.
    Anmerkung der Redaktion: PKs Couch wird nach dieser Woche weggeklappt. Peter Kristal dankt allen, die sich mit Fragen an ihn gewandt haben. An Weihnachten wird er zurückkehren, um eine Sonderedition seiner Kolumne zu präsentieren; bis dahin ist er erreichbar unter c/o Dr. Richard Aloisi, Praxis Aloisi, New York.
    Damit ist die Katze also aus dem Sack. Hier im letzten Kapitel finden Sie heraus, dass ich das alles im Irrenhaus geschrieben habe. Der alte Trick aus Der Fänger im Roggen. Aber Holden Caulfield wusste wenigstens, wer seine Eltern sind. Doch fangen wir nicht wieder damit an. Wissen bringt seine eigenen Fallstricke mit sich. Nach der Anstrengung, die mich das Niederschreiben dieses Buchs gekostet hat, nach der akribischen Anordnung meiner Vergangenheit und der Erklärung der Ergebnisse fühle ich mich ganz wohl mit dem Unwissen. Wäre ich da nur früher draufgekommen. Ich weiß genug, um Gott dafür zu danken, dass ich nicht mehr weiß. Das habe ich irgendwo in einem Buch gelesen, in welchem genau, habe ich vergessen. In den vergangenen eineinhalb Jahren hatte ich viel Zeit zum Lesen von Büchern. Das darf ich, weil ich natürlich nicht wirklich im Irrenhaus bin. Ich lebe bei Richard.
    Richard hat immer gesagt, dass das Schreiben meiner Memoiren eine hilfreiche Erfahrung für mich sein wird, und er hatte recht, wenn auch nur insofern, als das tägliche Hinsetzen und Arbeiten meinem Leben einen festen Ablauf beschert hat. Die methodische Wortplackerei hat den ungebärdigen Chor unbeantwortbarer Fragen zumindest teilweise verstummen lassen. Tausend Wörter heute. Tausend morgen. Klare Ziele, wenig Zeit zum Nachdenken über andere Dinge. Im letzten Jahr hat Richard an seinem neuesten Buch geschrieben, einer Anthologie über die Psychologie der Sechzigerjahre mit dem Titel Verstehen verstehen verstehen , und wir beide haben viele Abende in kreativer Atmosphäre verbracht, fast wie
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