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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Autoren: Mark Watson
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sich nicht bedroht, aber auch schmerzlich uneindeutig. Dann bei dem Namen Nicholas entstand ein leises Funkeln in seinen Augen, nicht mehr als das An- und Ausmachen eines Feuerzeugs, doch es reichte mir, um Hoffnung zu schöpfen. Ich betrachtete das gerötete, faltige Gesicht und den unbeweglichen Körper und versuchte zu begreifen, dass dieser Mann einmal mit meiner Mutter geschlafen hatte. Ich glaubte zu bemerken, wie in seinen Augen die Erkenntnis dämmerte. Wieder probierte ich es mit den Namen, und wieder blitzte es leise auf. Ich wartete auf eine Äußerung von ihm, doch vergeblich. Anscheinend musste ich die ganze Arbeit leisten.
    »Also, wie Sie … wie Sie sehen …« Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ich ihn anreden und welchen Ton ich für dieses einzigartige Thema anschlagen sollte. »Ich, äh … also, es gibt Gründe für die Vermutung, dass Sie vielleicht … dass Sie vielleicht mein Vater sind.«
    Das folgende Schweigen fühlte sich so lang an wie die vier Jahrzehnte, die ich auf diese Begegnung hatte warten müssen. Vorsichtig tastete sich ein Lächeln über sein Gesicht. Dann redete er endlich, und in dem seltsam gemischten Akzent hörte ich einen Widerhall meiner eigenen Sprechweise.
    »Wo warst du denn?«
    Ich hatte alles um mich herum vergessen: die anderen Menschen im Raum, die Geräusche. Wahrscheinlich hätte ich mich nicht einmal an den Namen des Ortes erinnert. Auf jeden Fall hatte ich mein Zeitlimit vergessen – wir waren so lange voneinander getrennt gewesen, dass das keine Rolle spielte – und nahm mir daher eine ganze Minute, um jede Einzelheit seines Gesichts zu studieren. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, auf seine Worte, auf alles. Dieser Hinhalteinstinkt war vielleicht derselbe, der mich als Kind dazu veranlasst hatte, das Auspacken der Geschenke möglichst in die Länge zu ziehen. Ich wollte dieses späte Geschenk, dieses Erwachsenenabenteuer, bis zur Neige auskosten.
    »Wo warst du denn?«, fragte ich schließlich zurück.
    »Ich habe die ganze Zeit hier gesessen«, antwortete er.
    »Ich war bis vorgestern in Illinois. Ich lebe in …«
    »Wo sind meine anderen Jungen?« Er sah mir direkt in die Augen.
    Ich war überrumpelt. Die Möglichkeit neuer Halbbrüder war mir nie eingefallen. Mit quälender Eindringlichkeit verdichtete sich die Vorstellung, mich in einer lebendigen Familie wiederzufinden.
    »Ich habe keine Ahnung. Ich bin allein gekommen. Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
    Er kniff die Augen zusammen, anscheinend ergab die Frage keinen Sinn für ihn.
    »Die Jungen?«, hakte ich nach. »Waren sie in letzter Zeit hier?«
    »Natürlich!«, antwortete Mr. Horst ungeduldig. »Hab ich euch drei nicht zum Einkaufen geschickt?«
    Zum ersten Mal schrillten bei mir die Alarmsirenen, aber ich ließ mich nicht abbringen. »Nein, mich hast du noch nie gesehen. Ich bin erst heute Abend gekommen. Von weit her.«
    »Und wer hat dann eingekauft?«, wollte der Alte wissen. »Und aus welchem Grund bist du hier?«
    »Ich bin gekommen, um dich zu suchen.« Mein Ton war beschwörend, aber meine Hoffnung schwand bereits. »Ich glaube, du warst mein Vater – bist mein Vater. Erinnerst du dich noch, was in Witching passiert ist? An …« Inzwischen war mir alles egal. »An deinen Bruder, der sich umgebracht hat?«
    »Mein Bruder?« Ratlos runzelte er die Stirn. »Also, den hab ich schon mindestens zwei Jahre nicht mehr gesehen. Aber Witching … ja, da war ich. Wir waren damals überall. Cambridge, Sussex, sogar die – wie hieß sie noch – die Isle of Wight haben wir besucht!« Nach einem keuchenden Lachen setzte er seine Wanderung durch eine Landschaft zunehmend verschwommener Erinnerungen fort. »Und weißt du, überall, wo wir hingekommen sind, waren die Leute gleich. Natürlich ist die Welt heute anders als früher … Ich kann mich nicht erinnern, ob du damals schon dabei warst …« Er hatte den Faden verloren und schaute sich um, als wartete er auf ein Stichwort. Dann richtete er die großen Augen auf mich, und zum ersten Mal zwang ich mich zu der Erkenntnis, dass sie völlig leer waren. Das Funkeln, das ich für das Licht der Erinnerung gehalten hatte, war nur das beliebige Flackern einer schadhaften Glühbirne.
    »Dann sind Sie der Zahnarzt?«, fragte er.
    Das Gedächtnis, auf das ich gehofft hatte, aus dem ich wertvolle Hinweise auf meine Identität hatte retten wollen wie nostalgische Kostbarkeiten vor einem Brand, war nur noch ein Haufen verkohlter, verstreuter
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