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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Autoren: Mark Watson
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Komiteemitglied, das Anweisungen erteilte, wollte mich wegscheuchen wie eine Schmeißfliege. Doch als ich meinen Namen nannte, führte mich der Mann schweigend durch die Horde von Gaffern und ein Gewirr von Gängen bis zu Websters Zimmer. Vor der offenen Tür hielt ein Polizist Wache. Immer noch wortlos wandte sich der Offizielle ab und ließ mich auf der Schwelle stehen. Im Zimmer befanden sich zwei Menschen, einer am Leben, der andere tot. Macguire saß stumm in einem Sessel und starrte ins Leere. Webster lag quer über dem Bett, bedeckt mit einem orangefarbenen Laken, das sich mit einem dunkelroten Fleck verfärbt hatte. In seiner linken Hand ruhte leicht die Pistole, mit der er sich vor eineinhalb Stunden in den Kopf geschossen hatte. Weiß Gott, wo sie her war und wie er sie auf das Gelände geschmuggelt hatte. Das war mein erster Gedanke.
    Es gab keinen Abschiedsbrief. Wer einen Psychiater hat, muss nichts erklären.
    In meiner fast zwanzigjährigen Karriere hatte ich immer wieder intensiv die Ursachen von Selbstmord erforscht. Doch noch selten hatte ich in die verdrehten Augen eines jungen Mannes geschaut, der seinem Leben erst so kurz zuvor ein Ende gesetzt hatte. Und mit Sicherheit war es das erste Mal, dass ich mich direkt verantwortlich fühlte für den Tod eines Menschen. Es hätte auch das erste Mal sein müssen, dass ich als Erwachsener in der Öffentlichkeit weinte, doch wie schon bei Dads Begräbnis hielten sich meine Gefühle nicht an die zeitliche Reihenfolge. Der Anblick von Websters geschmeidigem Körper, der wie auf einem Seziertisch dalag, betäubte mich. Die Tränen kamen erst später.
    Natürlich passiert es immer wieder, dass Ärzte den Tod von Menschen verschulden; Feuerwehrleute fahren zur falschen Adresse; Army Sergeants jagen die eigenen Soldaten in die Luft. Einmal hatte ich den Assistenten eines Entfesselungskünstlers behandelt, der bei einem Trick erstickt war, weil der Assistent kurz die Konzentration verloren hatte. Von den Berufen, die (in Theorie oder Praxis) regelmäßig mit lebensentscheidenden Fragen zu tun haben, ist die Psychotherapie in mancher Hinsicht ungewöhnlich gnädig zu den Praktizierenden. Die relative wissenschaftliche Verschwommenheit eröffnet eine Reihe von Fluchtwegen: Er hätte es sowieso getan; es wurde durch ein Ereignis in der Kindheit ausgelöst; als ich ihn kennenlernte, war ihm schon nicht mehr zu helfen. Verglichen mit dem Tiefschlag, den ein toter Patient für einen Arzt darstellt, tritt beim Seelenklempner eher so etwas wie eine kurze Krankheit auf: ein schleichendes Schuldgefühl in den Adern, das jedoch letztlich abgelegt wird, wenn die professionelle Haltung in die Hände klatscht und den Betreffenden zum nächsten potenziellen Katastrophenschauplatz dirigiert. Doch an dem Nachmittag, an dem sich Webster erschossen hatte, waren mir alle Fluchtwege versperrt, und ich sah mich mit dem unmittelbaren Grauen einer Löschmannschaft konfrontiert, die fünf Minuten zu spät eingetroffen ist. Zugleich spürte ich im Magen die Gewissheit, dass mich die träge Übelkeit und der bittere Nachgeschmack der Reue nie wieder loslassen würden. Am liebsten hätte ich mich erbrochen und tage-, ja wochenlang weitergewürgt, um das alles loszuwerden. Stattdessen gesellte ich mich zu Macguire in seiner starren Totenwache für den Jungen, der uns zusammengeführt hatte und dessen Selbstmord wir nicht verhindert hatten.
    Ich weinte nicht beim Begräbnis, denn ich war nicht dort. Sie flogen ihn zurück nach New York für eine Feier mit über dreihundert Gästen, die er in seiner kurzen Karriere bezaubert hatte. Über dem Sarg hing eine von allen Athleten der Spiele signierte Fahne; auch Kirstys Name stand dort irgendwo mit einem Herzen als I-Punkt, genau wie in der Dankes-/Beileids-Karte, die ich von ihr bekam. Die Fahne musste vor dem Gottesdienst entfernt werden, weil sich der Pfarrer an den Sponsorenlogos störte. Zu diesem Zeitpunkt war ich längst wieder in Chicago; nachdem ich der Polizei bei ihren Ermittlungen geholfen hatte, war ich mit der ersten Maschine abgereist. Im Flugzeug versuchte ich, einen entschuldigenden und erklärenden Brief an Websters Verwandte zu schreiben, doch schon nach drei Zeilen musste ich gegen die Tränen ankämpfen, und eine tropfte auf das Papier. Meine Sitznachbarin bot mir ihre Spucktüte zum Abwischen der Augen an. Zwar hatte ich eine eigene, aber ich war dankbar für die hilfsbereite Geste. Niemand im Flugzeug wollte mir in die Augen
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