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Rousseau's Bekenntnisse

Rousseau's Bekenntnisse

Titel: Rousseau's Bekenntnisse
Autoren: Jean Jacques Rousseau
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lassen, daß ich über das heutige Lernen das gestern Gelernte jedesmal wieder vergaß. Es war mir eingefallen, daß nach der Niederlage des Nicias bei Syrakus sich die gefangenen Athenienser durch den Vortrag der Dichtwerke Homers ihren Lebensunterhalt verdienten. Der Ausweg, den mir dieser Beweis von Gelehrsamkeit an die Hand gab, um mich vor Noth zu schützen, war, mein glückliches Gedächtnis der Art zu üben, daß ich alle Dichter auswendig wußte.
    Ein anderes nicht weniger verläßliches Mittel bot mir das Schachspiel dar, dem ich die Nachmittage der Tage, an denen ich nicht das Theater besuchte, regelmäßig im Café Maugis widmete. Ich machte daselbst die Bekanntschaft des Herrn von Légal, eines Herrn Husson, Philidor, so wie aller großer Schachspieler jener Zeit, und wurde dadurch doch nicht geschickter. Gleichwohl zweifelte ich nicht, daß ich es schließlich darin weiter bringen würde als sie alle, und das mußte mir meiner Ansicht nach hinreichende Hilfsmittel gewähren. Welche Thorheit sich meiner auch bemächtigte, ich urtheilte über sie stets in gleicher Weise. Ich sagte mir: Der Erste in irgend einer Sache ist stets sicher gesucht zu werden. Ich will also alle übertreffen, gleichviel worin; ich werde gesucht werden, Gelegenheiten werden sich bieten, und mein Talent wird das Uebrige thun. Diese Kinderei war nicht der sophistische Ausfluß meiner Vernunft, sondern meiner Trägheit. Mich vor den großen und raschen Anstrengungen entsetzend, die ich hätte machen müssen, um mich zu ermannen, suchte ich meiner Trägheit zu schmeicheln, und bemäntelte das Schimpfliche derselben mit Schlußfolgerungen, die ihrer würdig waren.
    So wartete ich ruhig das Aufhören meiner Geldmittel ab, und ich wäre, wie ich glaube, beim letzten Sou angekommen, ohne mich mehr zu beunruhigen, wenn mich nicht der Pater Castel, den ich mitunter auf dem Wege nach dem Café besuchte, aus meinem Stumpfsinn aufgescheucht hätte. Der Pater Castel war ein Narr, aber im Uebrigen ein gutmüthiger Mensch. Es that ihm leid zu sehen, wie ich mich so verzehrte, ohne etwas zu thun. »Da die Musiker und Gelehrten,« sagte er, »nicht singen wollen, wie Sie verlangen, so greifen Sie doch einmal nach etwas anderem und versuchen Sie, wie weit Sie es mit Hilfe der Frauen bringen. Mit ihnen wird es Ihnen vielleicht besser gelingen. Ich habe mit Frau von Beuzenval über Sie gesprochen; stellen Sie sich ihr vor und sagen Sie ihr, ich hätte Sie geschickt. Es ist eine gute Frau, die mit Freuden einen Landsmann ihres Sohnes und ihres Mannes kennen lernen wird. Sie werden bei ihr Frau von Broglie, ihre Tochter, eine sehr geistvolle Dame, antreffen. Auch mit Frau Dupin habe ich Ihretwegen Rücksprache genommen; überreichen Sie derselben Ihr Werk; sie hat Lust, Sie kennen zu lernen, und wird Sie gut aufnehmen. In Paris erreicht man nichts ohne die Frauen; sie sind die Curven, deren Asymptoten die Gelehrten bilden; sie nähern sich ihnen unaufhörlich, ohne sie je zu berühren.«
    Nachdem ich diesen schrecklichen Frohndienst lange von einem Tage auf den andern aufgeschoben hatte, faßte ich endlich Muth und stellte mich Frau von Beuzenval vor. Sie empfing mich gütig. Als Frau von Broglie hereinkam, sagte sie zu derselben: »Das ist Herr Rousseau, meine Tochter, von dem uns der Pater Castel erzählt hat.« Frau von Broglie sagte mir viel Verbindliches über mein Werk und zeigte mir, indem sie mich an ihr Klavier führte, daß sie sich damit beschäftigt hatte. Als es nach ihrer Stutzuhr beinahe Eins war, wollte ich aufbrechen. Frau von Beuzenval sagte jedoch: »Sie haben sehr weit bis zu Ihrer Wohnung, bleiben Sie deshalb und speisen Sie hier.« Ich ließ mich nicht lange bitten. Eine Viertelstunde nachher entnahm ich aus einigen Worten, daß mich Frau von Beuzenval nur zu der Tafel ihrer Hausbeamten eingeladen hatte. Sie war eine herzensgute, aber äußerst beschränkte Frau, und noch ganz erfüllt von ihrem erlauchten polnischen Adel, hatte sie keine Vorstellung von den Rücksichten, die man dem Talente schuldig ist. Sogar bei dieser Gelegenheit beurtheilte sie mich mehr nach meiner Haltung als nach meinem Anzuge, der, wenn auch sehr einfach, doch sehr sauber war und keineswegs auf einen Menschen deutete, der an die Dienertafel gesetzt werden mußte. Schon seit zu langer Zeit kannte ich den Weg dahin nicht mehr, um jetzt noch Lust zu haben, ihn wieder zu lernen. Ohne meinen ganzen Verdruß merken zu lassen, sagte ich zu Frau von Beuzenval, daß
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