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Rost

Titel: Rost
Autoren: Philipp Meyer
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zu jemandem, den Harris nicht sehen konnte. Er schien nicht zu merken, dass
er nicht allein war, und ein paar Sekunden später sank er in das hohe Gras und
rührte sich nicht mehr. Mitzitternden Händen versuchte Harris den Revolver
wieder in dem Holster zu verstauen, doch er schaffte es nicht.
    Auf dem Weg zurück zu seinem Truck, zwei Straßen weit, blieb er im
Dunkeln, kriegte seinen Kopf nicht klar, dachte nur immer wieder: Weitergehen.
Hättest ihre Brieftaschen mitnehmen sollen, damit’s nach was anderem aussieht.
Zu spät. Die rechte Hand musste gebrochen sein, sie pochte. Die Patronenhülsen,
eine lag im Haus, vielleicht auch zwei, und ein paar mehr auf der Veranda – wie
oft er geschossen hatte, wusste er nicht mehr. Es war zu dunkel, um diese
Patronen jetzt zu finden. Der Revolver war da auch noch drin – waren die
Handschuhe runtergerutscht? Nein. Hast du noch die Mütze auf? Er griff hin. Ja.
    Bevor er in den Wagen einstieg, zog er Mütze, Jacke und die Handschuhe
aus, weil sie voller Blut- und Pulverspuren waren, warf sie auf die Ladefläche
und fuhr los, so leise er nur konnte, ohne Scheinwerfer, bis er die Hauptstraße
erreicht hatte. Beim Fahren fing er an, sich schon zu untersuchen, aber seine
Hände zitterten zu sehr, unter der Weste spürte er, dass Blut an seiner Seite
runtersickerte, er wollte aber jetzt nicht anhalten und nachsehen, wie ernst es
war. Noch fiel es leicht zu atmen, konnte also nicht so schlimm sein, offenbar
hatte das Kevlar seinen Zweck erfüllt. Drei Kilometer war er jetzt entfernt. Er
musterte den Kilometerzähler. Vier.
    Kurz danach machte er das Licht aus und stoppte an einer Wendestelle
nah beim Fluss, wo er seinen Kaliber . 45 weit ins
Wasser schleuderte. Er setzte zurück und fuhr weiter, als ihm klar wurde, dass
er vergessen hatte, sich der Jacke und der Mütze zu entledigen, die hinten
lagen. Alles andere auch, dachte er. Bei dem nächsten Parkplatz hielt er an,
zog seine zweite Garnitur Kleidung an und die Laufschuhe und warf das, was er
angehabt hatte, auch seine kugelsichere Weste, in den Fluss.
    Er traf auf dem Revier ein, als die Sonne aufging. Und er überlegte,
wer sich wohl um seinen Hund kümmern würde.

5 . Poe
    Das Rauschen kam in seinen Kopf zurück, so laut, dass er es
nicht ertragen konnte, aber dass es aufhörte, kriegte er auch nicht hin, und
dann kam so ein Gefühl von Bewegung dazu, ich bin jetzt im Fluss, dachte er,
gleich geht’s übern Wasserfall. Neunzig zu sechzig, hörte er. Es brach nicht
ab, es flaute vielmehr langsam ab, dann konnte er wieder was sehen, es war
hell. Ich bin gefallen. Ich lieg auf der Erde, unterm Baum, beim Haus. Das
Licht war sehr hell. Sie versuchten, ihm was in den Mund zu stopfen, wollten
ihn ersticken, gleich würde er sich erbrechen. Er ist wieder da, rief jemand.
Holt den Schlauch raus. Mr. Poe, bleiben Sie bei uns. Oben waren Deckenkacheln,
helles Licht. Das Rauschen kam in seine Ohren zurück, er sah Dinge, er bewegte
sich wieder, und das Gefühl des Fallens tief im Bauch, er kippte über, wollte
von all den Geräuschen weg. Bleiben Sie bei uns, Mr. Poe. Die fassen mich an,
dachte er. Er griff mit einer Hand nach unten, wollte seine Blöße bedecken, sie
hatten ihm die Kleider weggenommen. Drücken Sie meine Hand, William. Können Sie
mich hören, William?
    Er wollte sich aufrichten, er kriegte nicht genug Luft.
    »Nein nein nein«, sagten sie alle. Starke Hände hielten ihn fest.
    »Mr. Poe, wissen Sie, wo Sie sind?«
    Doch, er erinnerte sich schon, aber es schien, wenn er Ihnen nicht
antwortete, könnte er es unwahr machen. Und er hatte Angst, er könnte andere
Dinge sagen, über Isaac. Ich werde kein Wort sagen, dachte er, die wollen mich
zum Reden bringen.
    »Sie sind eventuell am Hals verletzt. Sie dürfen sich noch nicht bewegen,
wir müssen die Röntgenbilder abwarten.«
    Verkrüppelt, dachte er. Er spürte aufsteigende Tränen in den Augen.
Er konnte kaum atmen, er bekam nicht genug Luft herein.
    »Wissen Sie, wo Sie sind«, sagten sie. »William. William, können Sie
mich hören?«
    »Sie haben mehrere Löcher in Ihren Lungen. Wir werden gleich die
Flüssigkeit absaugen, dann können Sie wieder atmen. Es wird allerdings ein
bisschen weh tun.«
    Er versuchte, was zu sagen, aber nichts kam raus. Er wollte wieder
schlafen.
    »Halten Sie ihn«, sagten sie.
    Sie stachen ihm mit etwas in die Seite, und dann ging es tiefer, und
dann steckten sie ihm etwas so tief rein, dass jetzt der Schmerz direkt aus
seiner
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