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Rost

Titel: Rost
Autoren: Philipp Meyer
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die Lage ganz schnell ändern. Dass ihr Sohn
nicht angeklagt wurde, ist eine Formsache, sonst nichts.« Er schaute auf seinen
Notizblock. »Tut mir leid«, sagte er.
    ***
    Es war zehn Uhr, Henry saß in seinem Schlafzimmer im Rollstuhl
und betrachtete den Schreibtisch, er ging noch Papiere durch. Er hörte, dass
die Dusche oben lange lief, dann klopfteLee an seine Tür und fragte, ob er
Hilfe brauche beim Zubettgehen, aber er sagte nein. Sie wartete eine Minute vor
der Tür.
    »Und sonst?«
    »Nichts. Geh ins Bett.«
    Er hörte sie im Haus rumoren, dann ging sie nach oben, zog sich in
ihr Zimmer zurück, und dann war es still, bis auf das Knarren überall im Haus,
das sich abkühlte. Henry nickte ein in seinem Rollstuhl, träumte, dass er immer
noch bei Penn Steel arbeitete, freute sich darauf,
bald wieder aufzuwachen, denn am Ende jedes Arbeitstages war er müde, schmutzig
und sehr froh, zu seiner Frau nach Hause gehen zu können, aber morgens war er
stets bereit für seine Arbeit. Etwas knarrte, und er wachte auf, mit großem
Lufthunger.
    Er war noch immer hier, in seinem Schlafzimmer. Er holte tief Luft,
unter Mühen, manchmal, wenn er schlief, bekam er nicht ausreichend Sauerstoff.
Wie klein dein Leben sich jetzt anfühlt – das konntest du niemandem erklären.
Hätte ich nur ahnen können, was da auf mich zukam, hätte ich gewusst, was ich
zu tun hatte. Allmählich abwärts.
    Mary hatte ihn allein gelassen, Henry wusste das, sie hatte aufgegeben.
Dabei hätte doch nicht sie diejenige sein dürfen, die das tat, das war so
unsinnig. Wenn sie es durchgesprochen hätten, wären sie zu einer sinnvollen
Vereinbarung gekommen, sie hätte die Kinder mitgenommen und wäre woanders
hingezogen, aber sie geht los und tut es, ohne ihm ein Wort zu sagen. Seine
Arme zitterten, wie oft hatte er diesen Schritt schon tun wollen, er hätte es
tun sollen, aber sie war ihm zuvorgekommen. Sie war schwach, das war die
Wahrheit über sie, die Wahrheit über alle Frauen, deshalb hatte er auf Lee
gesetzt. Weil sie hier raus musste, sie durfte nicht wie ihre Mutter enden, das
ließ er nicht zu.
    Vielleicht warst du der Schwache, dachte er. Vielleicht macht es sie
stärker, dass sie das getan hat. Du weißt ganz genau, warum sie in den Fluss
ging, und du weißt, warum dein Sohn da steht,wo er jetzt steht. Und doch
wusste er nicht, was er dagegen hätte tun können. In den drei Jahren, als er
zwischen Indiana und hier pendelte, einmal im Monat, war es schwer für sie,
aber für ihn war’s auch nicht einfach, dieses Leben in Pensionen und
Monatshotels. Doch immerhin bezahlte Steelcor gut.
Die nahmen einen nur hart ran, und sicher war es auch nicht. Ein Blick in die
Statistiken reichte, sie hatten mehr Unfälle. Aber man brauchte nicht in die
Statistiken zu schauen. Steelcor war zum
Geldverdienen da. Die wollten jeden Dollar aus dem Werk herauspressen, bevor
sie irgendwelche Mängel ausbügelten. Was würdest du darum geben, wenn du dich
an dem Tag damals krank gemeldet hättest.
    Erst hatte es ihm nichts ausgemacht, dass er kein Mitglied der Gewerkschaft
war, schon Reagan sagte, dass die Arbeitskosten aus dem Ruder liefen, es war
ein Problem mit den Gewerkschaften, du hattest ihn gewählt. Bloß dass es nicht
nur daran lag. Penn Steel hatte seit fünfzehn Jahren
keinen Pfennig in die Werke investiert, und bei den meisten anderen Großwerken
in Amerika war es genauso, überall fiel alles auseinander, viele hierzulande
produzierten bis zum Tag, an dem sie dichtgemacht wurden, noch mit dem
einstufigen Prozess, während Deutsche und Japaner seit den Sechzigern schon mit
dem Oxygen-Verfahren arbeiteten. Das bekam man allerdings erst nachher mit: die
Japsen und die Deutschen steckten immer Geld in ihre Werksanlagen. Investierten
in die neue Infrastruktur, investierten immer in sich selbst. Dagegen
investierte Penn Steel keinen müden Cent in seine
Werke, eine Garantie für ihren Absturz. All die Wohlfahrtsstaaten, Deutschland
oder Schweden, stellten immer noch in rauhen Mengen Stahl her. Dabei sollten
die doch eigentlich bankrott gehen. Er sah auf seinen Schreibtisch, wusste
nicht mehr, was er hier gewollt hatte. Er nickte wieder ein.
    ***
    Sie hatten den Hochofen abgestochen und den Schmelztiegel
gefüllt, der Kran brachte ihn rüber, fertig für den Guss. Dann war da noch ein
anderes Geräusch, er hatte es trotz all des Lärms gehört. Der Kran schwingt
weiter, aber die Gießpfanne wackelt leicht, und schon geht alles Richtung
Boden, fünfzig
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